Die Wanderhure
der Umhänge hindurch konnte er spüren, wie sie zitterte, und musste sein Verlangen unterdrücken. Vorerst durfte er sich nur in seiner Phantasie ausmalen, was er mit dem Mädchen anstellen würde, wenn sein Herr ihrer überdrüssig geworden war. Ein Geräusch ließ ihn hochschrecken, doch ehe er sich umsehen konnte, traf ihn etwas am Kopf und löschte seine Sinne aus.
Anders als Selmo hatte Hedwig wahrgenommen, wie ein Arm mit einem Schwert aus der Dunkelheit auftauchte und der Knauf ihren Begleiter traf. Gleichzeitig packte sie jemand von hinten und erstickte ihren Schrei.
»Bitte, sei still, Hedwig. Wir sind es doch, Hauptmann Michel und ich. Wir wollen dich befreien.«
»Befreien? Aber warum? Ich soll doch freigelassen werden.« Hedwig wollte sich zu Wilmar umdrehen. Aber da begann sich der Boden unter ihren Füßen aufzuwölben, und sie stürzte in ein tiefes schwarzes Loch.
Wilmar fing das zusammensinkende Mädchen auf, hob es hoch und sah sich suchend nach dem Hauptmann um, doch den schien die Dunkelheit verschluckt zu haben.
Michel hatte Selmo in eine dunkle Ecke am Ziegelturm gezerrt und durchsuchte ihn. Als er die Pergamentrolle gefunden hatte, die Wilmar gesehen haben wollte, zündete er Selmos Blendlaterne wieder an, warf einen kurzen Blick auf das Schreiben und schob es mit einem Schnauben unter sein Wams.
Der Geselle trat neben ihn und wies mit dem Kinn auf Hedwig, die wie ein knochenloses Bündel in seinen Armen lag. »Sie ist plötzlich ohnmächtig geworden und rührt sich nicht mehr. Ich habe Angst, dass ihr Herz stehen geblieben ist.«
Michel legte die Hand auf Hedwigs Kehle und fühlte das schwache Klopfen der Schlagader. »Keine Sorge, sie lebt. Ich schätze, der Kerl hat sie betäubt. Nun, da haben wir ihm ja noch einen Gefallen getan, indem wir sie ihm abgenommen haben, denn sonst müsste er das Mädchen jetzt quer durch die Stadt tragen.«
Seiner Stimme war anzuhören, dass er sich über den schnellen Erfolg freute. »Komm, gib mir das Kind und nimm die Laterne. Wir müssen die Kleine in Sicherheit bringen, ehe der Kerl da hinten aufwacht.«
Wilmar ließ Hedwig nur ungern los, aber er sah ein, dass Michel sie müheloser tragen konnte. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er nicht über Hedwigs Befreiung hinausgedacht hatte, und sog scharf die Luft ein. »Wir müssen sie irgendwo verstecken, wo sie weder der Abt noch die Büttel finden.«
»Ich weiß schon einen Ort, an dem kein Mensch sie suchen wird.Wir bringen Hedwig zu einer mir gut bekannten Hure. Sie wird sich ihrer annehmen und auf sie aufpassen.«
»Zu einer Hure?«, fragte Wilmar empört.
Er wollte Michel erklären, dass ein Hurenhaus keine Unterkunft für eine unschuldige Jungfer wie Hedwig war, doch dann sah er ein, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Diskussionen war. Er biss die Zähne zusammen und beeilte sich, mit den langen Beinen des Hauptmanns Schritt zu halten und ihm den Weg auszuleuchten. Nach kurzer Zeit bogen sie in die Gasse am Ziegelgraben ein und blieben auf Michels Wink vor einem der kleinen Häuser stehen.
»So, hier ist es. Du gehst jetzt noch bis zum Zolfinger Kloster oder ein Stück darüber hinaus und wirfst die Laterne dort in einen Graben. Dann kommst du zurück. Pass aber auf, dass du an der richtigen Tür klopfst, sonst musst du noch die neugierigen Fragen wildfremder Leute beantworten, und das wäre nicht gut für dein Mädchen.«
Wilmar hörte noch, wie Michel an die Tür trat und den Türklopfer betätigte, dann schritt er eilig aus, um den Hauptmann nicht zu lange mit Hedwig allein lassen zu müssen.
XV.
A ls Michel und Wilmar sich ihrem Haus näherten, saßen Marie, Hiltrud und Kordula in der Küche. Sie hatten erst vor kurzem ihre letzten Freier verabschiedet und genossen es nun, träge herumzusitzen und weißes Brot zu essen, das sie in warmen, gewürzten Wein tauchten. Das war eine Leckerei, die sie sich früher nicht hatten leisten können. Während die beiden Freundinnen sich über die Eigenarten einiger treuer Kunden unterhielten, saß Marie wie üblich grübelnd in der Ecke. Da klopfte es plötzlich an die Tür.
»Wer mag das denn noch sein?« Kordula sprang auf und wollte nachsehen, als sich Maries Finger um ihr Handgelenk legten.
»Die Zeit fürs Geschäft ist vorbei. Wer jetzt kommt, hat wahrscheinlich nichts Gutes im Sinn.« Marie konnte ihr nicht erklären, dass sie zu jeder Stunde mit der Angst lebte, erkannt zu werden, und fürchtete, ein von Ruppert geschickter Mörder
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