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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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sich wie ein dunkler Schleier über die Stadt, als Michel und Wilmar von St. Johann aus auf den Ziegelturm zugingen. Die Tore der Stadt waren längst geschlossen, und zu normalen Zeiten wäre es unmöglich gewesen, ein Mädchen aus Konstanz hinauszuschmuggeln. Doch wegen des Konzils ließen die Türmer zu jeder Stunde Leute hinaus.
    Michel neigte zwar immer noch dazu zu glauben, dass Wilmar den Abt aus Eifersucht beschuldigt hatte. Aber so ganz war die Möglichkeit, dass der junge Geselle mit seinen Vermutungen ins Schwarze getroffen hatte, nicht von der Hand zu weisen. In jedem Fall war es unwahrscheinlich, dass der Abt die Entführung am hellen Tag vor Dutzenden von Zeugen ausführen lassen würde, und so hatte Michel Wilmar bis zum Sonnenuntergang in der Schenke festgehalten und war erst mit ihm losgezogen, als die Straßen sich zu leeren begannen. Der Anblick eines in einen weiten Kapuzenmantel gehüllten Mannes, der auf den Ziegelturm zueilte, verscheuchte Michels Zweifel, zumal Wilmar ihm zuflüsterte, dass er Selmo erkannt habe.
    Der Mann trug eine Blendlaterne, deren Licht auf das Pflaster vor ihm fiel, und hatte einen zweiten Mantel über seinen Arm gelegt. Zielstrebig ging er auf die Pforte des Turms zu und pochte dagegen. Es dauerte eine Weile, bis eine kleine Klappe in Augenhöhe geöffnet wurde.
    »Wer ist da?«, fragte jemand unhöflich.
    »Im Namen des Rates der Stadt Konstanz, mach auf.« Selmo hielt das Pergament, das Abt Hugo ihm ausgehändigt hatte, sovor die Klappe, dass der Wächter das Siegel erkennen konnte. Er hörte zufrieden, wie die Riegel zurückgeschoben wurden, und trat ein, kaum dass die Tür sich einen Spalt geöffnet hatte.
    »Ich soll die Gefangene Hedwig Flühi abholen«, erklärte er in strengem Ton.
    Der Wächter rieb sich verwirrt über seinen blanken Schädel. »So spät am Abend?«
    Um den Mann einzuschüchtern, legte Selmo sehr viel Hochmut in seine Stimme. »So wurde es mir befohlen.«
    »Na schön. Ich hole sie.« Der Wächter schlurfte davon und kehrte kurz darauf mit Hedwig zurück. Das Gesicht des Mädchens war verquollen und nass vom Weinen, aber es zeichnete sich Hoffnung darauf ab.
    »Werde ich freigelassen?«, fragte sie Selmo.
    Selmo lächelte so gütig, wie er es von seinem Herrn abgeschaut hatte. »Darüber wird dort entschieden, wo ich dich jetzt hinbringe.«
    Das Mädchen nahm es als Bestätigung und fragte hastig, so als schäme sie sich, zuerst an sich selbst gedacht zu haben, was mit ihren Eltern geschehen würde.
    »Das liegt ganz bei dir. Wenn du vernünftig bist und brav tust, was man dir sagt, wird man deine Mutter bald freilassen und gnädig zu deinem Vater sein. Du kannst dazu beitragen, den Richter von seiner Unschuld zu überzeugen.«
    Hedwig faltete die Hände und versprach, gehorsam zu sein und alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um ihren Eltern zu helfen. Selmo zwang sich, ein vergnügtes Grinsen zu unterdrücken und seine salbungsvolle Miene beizubehalten. Sein Herr würde zufrieden sein, denn mit seiner Hilfe bekam er eine willige Geliebte. Da Frauen jedoch unberechenbar waren und er nichts riskieren wollte, zog er die Flasche mit dem Mohnsaft aus einer Tasche seines Umhangs, füllte den Inhalt in den Becher des Wächters, der auf dem Tisch der Wachstube stand, und reichte ihn Hedwig.
    »Trink das, es wird dir gut tun.«
    Hedwig starrte angewidert auf das schmutzige Gefäß. »Was ist das?«
    »Eine Medizin. Sie verhindert, dass du durch den Dreck unten im Turm krank wirst. Wenn du sie brav austrinkst, sorge ich dafür, dass dein Vater und deine Mutter auch damit versorgt werden.«
    Hedwig nickte eifrig und leerte den Becher bis zum letzten Tropfen, auch wenn die bittere Flüssigkeit sie sichtlich schüttelte. Selmo steckte die leere Flasche wieder ein und legte Hedwig den anderen Kapuzenmantel um die Schultern.
    »Lass uns heraus«, forderte er den Wächter auf.
    Der nahm mit mürrischer Miene den Schlüssel, schlurfte zur Tür und öffnete sie widerwillig.
    Als Selmo Hedwig auf die Straße hinausschob, hörte er, wie die Pforte hinter ihm wieder verschlossen wurde, und konnte sich ein halblautes Lachen nicht verkneifen. Der Büttel würde erst am nächsten Morgen bei der Ablöse begreifen, dass er die Gefangene übergeben hatte, ohne einen schriftlichen Befehl vorweisen zu können.
    Selmo legte den Arm um Hedwigs Schulter und zog sie an sich, so als wolle er verhindern, dass sie auf dem löchrigen Pflaster stürzte. Durch den dicken Stoff

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