Die Wanderhure
bekamen. Wenn sie erwartet hatten, dass Marie ihre Ersparnisse darin aufbewahrte, sahen sie sich getäuscht. Marie hatte ihr Geld außer Haus geschafft, denn das Konzil lockte auch viele Diebe und Einbrecher an, die den Einwohnern der Stadt das Leben schwer machten.
Um nicht das Risiko einzugehen, von einem Fremden übers Ohr gehauen oder sogar von ihm als Diebin hingestellt zu werden, wie es schon anderen Huren ergangen war, hatte Marie Michel gebeten, ihre Ersparnisse bei einem zuverlässigen Bankier zu deponieren. Ihr war zwar nicht ganz wohl dabei, weil sie sich damit ihrem Jugendfreund auslieferte, doch er war der einzige Mann, dem sie halbwegs vertrauen konnte.
Als Marie die Treppe hinunterstieg, fragte eine der Frauen neidisch: »Gehst du wieder mit deinem schmucken Kavalier aus?«
Da Marie keine Lust hatte, ihr wahres Ziel zu nennen, nickte sie nur. Unten machte man ihr nur widerwillig Platz und murrte, weil sie, die ein ebenso hohes Ansehen genoss wie Madeleine und von den meisten als Vertrauensperson und Ratgeberin angesehen wurde, die Versammlung frühzeitig verlassen wollte.
Marie wehrte Fragen und Zurufe mit einem entschuldigenden Lächeln ab und eilte davon. An der nächsten Ecke gesellte sich Michel mit grimmigem Gesichtsausdruck zu ihr. Wieder einmal ärgerte sie sich über sein Auftauchen, sie fühlte sich von ihm überwacht und kontrolliert. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Michel sah sie empört an. »Wie kann ich gut gelaunt sein, wenn ich mir ständig Sorgen um dich machen muss? Du läufst so unbekümmert herum, als wäre die Stadt der sicherste Ort der Welt. Aber unsere Feinde schlafen nicht. Ich habe Selmo in der Nähe herumschleichen sehen. Er scheint immer noch nach den Leutenzu suchen, die ihm die Beule verpasst und das Mädchen abgenommen haben. Schärfe Hedwig gut ein, sich nicht sehen zu lassen, besonders nicht von den losen Weibsbildern, die bei euch herumlungern. Die meisten von denen dürften bereit sein, sie für ein paar Silberlinge an Abt Hugo und dich an deinen früheren Bräutigam zu verraten.«
Marie sah ihn betroffen an und lächelte entschuldigend. War sie so unvorsichtig gewesen, dass man auf sie aufmerksam geworden war, oder sah Michel nur Gespenster? Auf alle Fälle tat seine Fürsorge ihr gut, auch wenn sie es sich kaum eingestehen mochte. Sie nahm sich vor, beim nächsten Mal im Bett etwas freundlicher zu ihm zu sein. Heute hatte sie jedoch keine Zeit für ihn, denn der Graf von Württemberg war ein sehr einnehmender Liebhaber und würde sie sicher nicht vor dem Abend entlassen.
Der Graf entlohnte sie bei jedem Besuch so großzügig, dass sie mit seinem Geld recht komfortabel durch den nächsten Winter kommen konnte. Bei diesem Gedanken schüttelte Marie sich. Offensichtlich hatte sie das Leben einer Wanderhure so stark verinnerlicht, dass sie nur noch von Winterquartier zu Winterquartier denken konnte. Dabei brauchte sie sich zumindest für dieses Jahr keine Sorgen wegen einer Unterkunft zu machen, denn das Konzil würde in den kalten Monaten weitergehen und ihr die Möglichkeit geben, auch den Rest des Jahres gut zu verdienen. Diesmal würde der Winter sogar einträglicher sein als die anderen Jahreszeiten, denn die Kälte würde die hohen Herrschaften in die warmen Betten der Huren treiben – und die der bereitwilligen Bürgersfrauen.
Auch Marie ärgerte sich über die Zustände in der Stadt, allerdings weniger, weil sie um ihre Einnahmen fürchtete, sondern wegen der Selbstverständlichkeit, mit der die Bewohnerinnen von Konstanz jeden Anstand vergessen hatten und dabei auch noch die Zustimmung ihrer Männer fanden. Sie war nicht die einzige Frau, die ohne Verschulden der Unzucht angeklagt, ausgepeitschtund aus ihrer Heimat vertrieben worden war. Selbst die Huren, die nach dem Gesetz zu Recht bestraft worden waren, hatten es meist nicht so wild getrieben wie die ehrbaren Damen dieser Stadt, die immer noch die Röcke rafften, wenn ihnen eine Hübschlerin begegnete.
Michel zupfte sie am Ärmel. »Du scheinst auch nicht gerade bester Laune zu sein.«
Marie zog die Schultern hoch, als friere sie. »Ich muss über einiges nachdenken, und das meiste ist nicht besonders angenehm. Hast du schon eine Möglichkeit gefunden, Hedwig aus der Stadt zu schmuggeln? Wenn sie sich ständig in dem engen, heißen Verschlag verstecken muss, wird sie krank werden.«
Michel breitete bedauernd die Hände aus. »Sie hinauszuschmuggeln wäre nicht schwer. Doch
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