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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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verzweifelt, wo es Hilfe für sie geben mochte.
    Aufgrund ihrer ersten Erfahrung wagte sie es nicht, noch einmal ein Dorf zu betreten, und sie versteckte sich auch sofort, wenn sich Reisende näherten. Schließlich atmete sie auf, als sie einen großen Gutshof entdeckte, der ein Stück abseits des Weges lag. Wenn arme Bauern ihr nichts geben wollten, musste sie versuchen, an das Mitleid der Gutsleute zu appellieren.
    Auch hier hatte sie keinen Erfolg, denn als sie die Hecke erreichte, die die Gärten vor dem Hof umgaben, stürzten mehrere zottelige Hunde laut bellend auf sie zu. Marie drehte sich um und rannte zur Straße zurück. Die Hunde waren jedoch hartnäckiger als die Dörfler. Sie hetzten sie und trieben sie in die Enge wie ein Stück Wild, dann sprang der erste sie an und schnappte nach ihrer Kehle. Aber sie stürzte so schnell zu Boden, dass der Biss sie verfehlte.
    Marie drehte sich auf den Bauch und versuchte wegzukriechen, um den Hundeschnauzen zu entgehen, aber die Tiere warenschon über ihr, und sie spürte ihre Zähne im Fleisch. In dem Moment ertönte ein lautes, durchdringendes Pfeifen. Die Hunde hielten knurrend inne, bereit, sich erneut auf ihre Beute zu stürzen. Ein weiterer scharfer Pfiff brachte sie dann aber dazu, sich winselnd zu trollen.
    Irgendwie gelang es Marie, wieder auf die Beine zu kommen. Als sie weiterging, weinte sie still vor sich hin. Ihr Kopf schien mit einem Mal weit über ihrem Körper zu schweben, weit weg von dem Blut, dass ihr die Beine herunterrann, und allen Schmerzen. Sie vermochte sich kaum mehr zu erinnern, wer sie war und weshalb sie mit bloßen Füßen die Straße entlangstolperte. Es ist nicht nötig, wegzulaufen, sagte etwas in ihr. Der Tod kommt überallhin, und er kommt als Freund und Erlöser. In einem letzten Aufbäumen des Willens wankte sie weiter, bis sie den Schatten einer Buche erreichte. Sie lehnte sich an ihren Stamm, rutschte daran hinunter und bettete ihren Kopf auf ein weiches Moospolster.

II.
    E ine Gruppe fahrenden Volkes zog langsam die Straße nach Singen entlang. Männer, Frauen und Kinder waren in auffallend bunte, oftmals geflickte Gewänder gehüllt, die zumeist nur noch aus Lumpen bestanden. Die Spitze des Zuges bildete ein klappriger, von zwei Mähren gezogener Planwagen. Ein hagerer Mann mittleren Alters mit kurzem schwarzem Bart saß auf dem Bock und lenkte die Pferde, die kein Bauer mehr vor den Pflug gespannt hätte, während zwei junge Burschen, deren Ähnlichkeit mit dem Wagenlenker unübersehbar war, neben ihm herschritten. Sie hielten feste Knüppel in den Händen und sahen sich immer wieder um, so als müssten sie eine kostbare Fracht bewachen. Der Rest der Gruppe folgte dem Wagen zu Fuß. Die Frauen stapften unter schweren Bündeln gebeugt dahin, während dieMänner nur leichtes Gepäck trugen und den Saum der Straße wachsam beäugten. Es war Jossis Gauklertruppe, die zum Jahrmarkt nach Merzlingen zog, einem kleinen Städtchen zwischen Singen und Tuttlingen, sowie mehrere Reisende niederen Standes, die sich ihnen angeschlossen hatten.
    Am Schluss des Zuges ging eine hoch gewachsene Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren mit blonden, von der Sonne gebleichten Haaren, die auf den Namen Hiltrud hörte. Sie war weder hässlich noch besonders hübsch, besaß aber ein angenehmes Gesicht und etwas belustigt funkelnde hellgraue Augen. Ihre Kleidung bestand aus einem weiten braunen Rock, an dem gelbe Bänder flatterten, sowie einer Bluse aus gelbem Leinenstoff, die sich eng um ihre vollen, wohlgeformten Brüste schmiegte. Die Frau schien es gewohnt zu sein, barfuß zu gehen, denn sie schritt leichtfüßig auf der mit scharfkantigen Gesteinsbrocken bedeckten Straße dahin, ohne ein einziges Mal das Gesicht zu verziehen. Mit einer dünnen Gerte lenkte sie zwei kräftige Ziegen, die vor einen kleinen, voll bepackten Leiterwagen gespannt waren.
    Immer wieder sah sich einer der Männer verstohlen zu ihr um und wurde prompt von einigen Frauen beschimpft oder verspottet. Die Frau am Ende des Zuges kümmerte sich weder um die bösen Blicke noch um die hässlichen Bemerkungen, die jedes Mal auch ihr galten. Sie gehörte nicht zu den Gauklern, sondern hatte sich ihnen bis zum nächsten Jahrmarkt angeschlossen, da das Reisen in einer größeren Gruppe ihr eine gewisse Sicherheit bot. Frauen, die allein unterwegs waren, fielen schnell den Männern zum Opfer, denen sie auf der Straße begegneten, das wusste sie aus eigener, leidvoller Erfahrung. Daher

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