Die Wanderhure
sie morgen holen kam.
V.
I n den nächsten Tagen mied Marie die Budengassen. Sie hüllte sich in eine Decke, mehr um den gelben Kittel zu verbergen, als sich gegen den Wind zu schützen, setzte sich an die Straße, die über Singen nach Konstanz führte, und hielt nach ihrem Vater Ausschau. Hiltrud ließ sie gewähren, denn dort schien ihr das Mädchen nicht in Gefahr zu sein, und sie hatte ihr Zelt wieder für sich und ihre Freier. Das war auch notwendig, denn bei dem anhaltend schönen Wetter besuchten ungewöhnlich viele Leute den Merzlinger Jahrmarkt, und die Fuhrleute brachten bis in die mondhellen Nächte hinein neue Fracht.
Während die Frauen meist nur Augen für Stoffe, Töpfe und andere nützliche Dinge hatten und viel Zeit mit Feilschen verbrachten, strichen die meisten Männer mit begehrlichen Blicken um die Zelte der Huren, um das herrschende Angebot weidlichzu nutzen. Trotz der Konkurrenz der wachsenden Hurenschar verdiente Hiltrud recht gut, denn sie war sauber und sah appetitlich aus. Auch übte ihre Körpergröße eine starke Anziehungskraft auf klein gewachsene Männer aus, die beweisen wollten, welch tolle Kerle sie waren, weil sie mit der größten Hure auf dem Markt schliefen. Hiltrud kam ihnen dabei entgegen, denn sie gab ihren Freiern das Gefühl, ihre Manneskraft sei so gewaltig, wie sie es selbst gerne glaubten. Das brachte ihr etliche Münzen über den vereinbarten Liebeslohn hinaus ein.
Als die Händler am letzten Nachmittag des Marktes begannen, ihre Stände wieder abzubauen, gesellte Hiltrud sich zu Marie, die auch an diesem Tag neben der Straße im Gras saß. »Ich werde morgen weiterziehen. Da dein Vater bis jetzt noch nicht aufgetaucht ist, solltest du dich mir anschließen.«
Marie schüttelte heftig den Kopf. »Ich will hier bleiben und auf ihn warten. Irgendwann wird er kommen.«
Hiltrud hieb mit der Rechten ärgerlich durch die Luft. »Du bist verrückt. Von was willst du denn leben?«
»Wenn nötig, bettele ich.«
»Ach ja?«, höhnte die Ältere. »Weißt du überhaupt, was das heißt? Für die Bürger drüben in der Stadt bist du dann nur noch ein Ärgernis, das verjagt werden muss, und wenn du glaubst, das Betteln schütze dich vor Willkür und Gewalt der Männer, bist du im Irrtum. Als allein stehende Frau kannst du noch so alt und hässlich sein, irgendein aussätziger Bettler wird dich ins Gebüsch schleifen und benutzen. Und ein junges und hübsches Mädchen wie du zieht jeden losen Gesellen an wie faulendes Obst die Wespen. Der Almosengeber im Kloster wird dich ebenso ins Heu zerren wie der Stallknecht der Herberge, vor der du betteln willst. Wenn du dich einer Gruppe von Bettlern anschließt, geht es dir auch nicht besser. Du wirst dem Anführer der Gruppe und seinen Freunden ebenso zu Willen sein müssen wie den Männern, an die sie dich für eine Stunde oder eine Nacht verschachern.«
Marie senkte den Kopf und kaute auf ihren Lippen. »Mein Vater wird kommen«, wiederholte sie störrisch. »Spätestens morgen ist er da.«
Hiltrud sah ihre Augen flehend auf sich gerichtet und seufzte. »Also gut, ich bleibe bis übermorgen früh. Dann fährt ein Wagenzug Richtung Trossingen ab. Ich frage den Anführer, ob wir uns ihnen anschließen dürfen. Ulrich ist ein netter Kerl, und für seinen Schutz mache ich gern die Beine breit.«
Marie kamen die Tränen bei dem Gedanken, dass Hiltrud beinahe jeden Schritt in ihrem Leben mit der Preisgabe ihres Körpers bezahlen musste. »Wenn mein Vater kommt, wirst du dich nie mehr verkaufen müssen, das verspreche ich dir.«
Hiltrud schürzte die Lippen und blickte in die Ferne, doch ihre Miene verriet, dass sie nicht an Matthis Schärers Auftauchen glaubte. Als Marie ihre Zweifel spürte, fühlte sie, wie die Hoffnung, die sie in den letzten Tagen aufrecht gehalten hatte, in ihr zerstob und eine schreckliche Leere hinterließ. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Bei Hiltrud mochte sie nicht bleiben, denn es war ihr klar, dass sie dann früher oder später ebenfalls Männer mit ins Zelt nehmen musste.
Sie zog die Schultern hoch und wickelte sich fester in ihre Decke. »Erich, der Spezereienhändler, hat mich gefragt, ob ich für ihn arbeiten will. Er sagt, er besäße eine Kate in der Nähe von Meersburg, wo eines der Häuser meines Vaters steht. Vielleicht sollte ich mit ihm gehen und ihn dazu bringen, meinem Vater eine Nachricht zu schicken.«
Hiltrud sah sie mit schief gelegtem Kopf an und begann schallend zu lachen.
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