Die Wanderhure
darauf hin, dass er der Anstifter der anderen vier gewesen war. Marie konnte sich zwar nicht erklären, warum der Mann sie zugrunde gerichtet hatte, aber sie war nun fest davon überzeugt, dass er sie vorsätzlich ins Unglück gestürzt hatte.
Am nächsten Morgen leerte der Anger sich zusehends. Die Händler packten ihre Habe zusammen, spannten sich selbst oder ihre dürren Mähren vor ihre Wagen und zogen weiter. Auch die Gaukler machten sich auf den Weg. Jossi ging mit auffällig gleichgültiger Miene an Hiltrud vorüber und warf ihr dabei einen fragenden Blick zu. Da sie jedoch keine Anstalten machte, ihr Zelt abzubrechen, zuckte er bedauernd mit den Schultern und gab seinen Leuten das Signal zum Aufbruch.
Gegen Mittag stand Hiltruds Zelt ganz allein auf dem Anger. Marie empfand die Stille um sich herum plötzlich als bedrückend. Überall war das Gras niedergetrampelt und hatte sich dort, wo Zelte und Buden gestanden waren, gelblich verfärbt. Kurz nach dem Zweiuhrläuten erschien ein Büttel aus der Stadt und fragte unfreundlich, was sie hier noch zu suchen hätten. Zu Maries Erleichterung gab er sich mit Hiltruds Erklärung zufrieden, sie würden am nächsten Tag mit Ulrichs Wagenzug nach Trossingen aufbrechen.
Am späten Nachmittag kam Peter Krautwurz vorbei, um sich ein letztes Mal Maries Rücken anzusehen. Als er die langsam verblassenden Male betastete, nickte er zufrieden. »Sehr gut, mein Kind. Die Striemen haben sich geschlossen und werden wohl abheilen, ohne schlimme Narben zurückzulassen. Du solltest allerdings noch einige Zeit nichts auf dem Rücken tragen.«
Marie senkte den Kopf. »Ich habe nichts zu tragen, denn ich besitzenichts mehr. Mir gehört ja nicht einmal der Kittel, den ich anhabe.«
Der Apotheker zeigte lächelnd auf ein Bündel, das er mitgebracht hatte. »Ich habe ein paar Kleidungsstücke für dich eingepackt, die auf dem Speicher lagen. Sie gehörten meiner Frau, die in den letzten Jahren so in die Breite gegangen ist, dass sie sich die Sachen wohl nie mehr ansehen wird. So einem schlanken Ding wie dir müssten sie jedoch passen.«
»Danke, Peter. Du bist ein wunderbarer Mensch.« Hiltrud küsste dem Apotheker die Wange und griff nach dem Bündel. »Ich werde gleich Hurenbänder annähen, damit niemand Anstoß nimmt, wenn Marie die Kleider einer Bürgerin trägt.«
»Muss das sein?« Marie gefiel der Gedanke nicht, offen als Hure abgestempelt zu werden.
Hiltrud schnaubte verärgert. »Wenn wir es nicht tun, werden uns die Fuhrleute nicht mitnehmen, und wenn wir allein reisen, werden wir die Beute jedes Männerhaufens, dem wir begegnen. Das habe ich dir doch schon erklärt.«
Peter Krautwurz nickte. »Hör auf Hiltrud. Sie hat Recht. Nun komm, lass mich dich noch einmal von vorne sehen.«
Marie hob zögernd das Hemd und biss die Zähne zusammen, als seine Finger sie zwischen den Beinen betasteten.
»Auch hier sieht es so aus, als käme alles in Ordnung. Du solltest aber noch eine Woche oder zwei warten, bevor du dich mit Männern einlässt. Geh nicht zu sparsam mit Hiltruds Tinktur und mit der Salbe um, die ich für dich zubereitet habe, denn gerade die Verletzungen im Unterleib müssen gut ausheilen. Schau, ich habe dir noch einen neuen Tiegel mitgebracht.«
Marie hörte nur heraus, dass sie gesund werden musste, um zu huren, und hätte ihm am liebsten die Salbe vor die Füße geworfen. Sie würde sich in ihrem ganzen Leben nicht mehr mit einem Mann einlassen, davon war sie fest überzeugt. Hiltrud bemerkte das Flackern in ihren Augen und fasste sie am Arm.
»Wärst du so lieb, uns allein zu lassen, Marie? Ich möchte mich von Peter verabschieden. Lass dir ruhig Zeit, es könnte etwas länger dauern.«
Marie verließ stumm das Zelt und wanderte über den leeren Anger zur Straße. Dort setzte sie sich an ihren gewohnten Platz und sah den Reisenden zu, die immer noch zahlreich an ihr vorbeikamen. Meist waren es Leute, die Merzlingen verließen, um in ihre Heimatorte zurückzukehren, oder an diesem Tag noch ein Stück des Weges zum nächsten Markt zurücklegen wollten. Nur wenige kamen von Singen herauf auf Merzlingen zu. Marie musterte jeden sorgfältig, doch es war weder ihr Vater noch ihr Onkel Mombert noch sonst ein Bekannter dabei.
Sie saß noch an der Straße, als die Dunkelheit längst angebrochen war und die kühle Nachtluft in ihre Haut biss. In ihr gab es nichts als Leere und Enttäuschung. Sie konnte nicht begreifen, warum ihr Vater sie im Stich gelassen hatte.
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