Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
als Fluchtweg aus der Burg gedient haben musste. Er wurde jedoch schon lange nicht mehr genutzt und war halb verfallen, weil mittlerweile ein anderer Stollen gegraben worden war, der im Wirtshaus endete. Entsprechend verlassen war der Tunnel. Niemand wagte sich mehr hinein, aus Angst, die mächtigen Felsen würden nachgeben. Auch Annelies hatte nur den äußersten Bereich erkundet, war dort jedoch rasch auf ein gutes Versteck gestoßen. In einer Nische, so groß, dass sich ein Mensch darin verbergen konnte, gab es eine Spalte im Felsen. Dieser Kluft hatte die Zofe ihr kleines Vermögen anvertraut. Festen Schrittes näherte sie sich nun dem engen Eingang zum Tunnelsystem. Sie musste sich auf ihren schon sehr rundlichen Bauch legen und hineinkriechen. Skeptisch betrachtete die junge Frau ihre fülligen Formen. Hoffentlich gelang es ihr noch? Glücklicherweise gab es kein Problem. Keine zwei Ellen später erweiterte sich das Loch, sodass sie in gebückter Haltung stehen konnte. Annelies schnupperte. Irgendwie roch es brenzlig, nach Teer. Gab es noch jemand, der den Tunnel nutzte? Sollten sich am Ende Strolche hier eingenistet haben? Alle Sinne geschärft, blieb Annelies reglos stehen. Tatsächlich war ihr, als hörte sie etwas. Die gedämpfte Stimme eines Mannes, aber weit weg. Das Herz der Zofe schlug rascher. Hatte er ihr Geld gefunden und an sich genommen? Leise und vorsichtig, jeden Fuß vor den anderen setzend, tastete sich die junge Frau vorwärts. Rechts neben ihr öffnete sich die Nische. Annelies wand sich hinein. Mit den Fingerspitzen versuchte sie den Spalt zu finden. Die Stimme verstummte, dafür waren nun deutlich sich nähernde Schritte zu hören. Hektisch flogen Annelies’ Finger über den Stein. Wo war nur diese Felsspalte? Hatte sie sich am Ende verlaufen? Die Schritte kamen immer näher. Jetzt nahm die Zofe auch den Schein einer Fackel wahr. Bei ihrer ersten Erkundung der Höhle hatte sie wenige Schritte weiter einen kleinen Abzweig entdeckt. Gerade noch rechtzeitig konnte sich Annelies in den Schlupfwinkel zwängen.
»Kein Geräusch machen, nicht atmen!«, befahl sich die Zofe. Das Licht begann den Tunnel auszuleuchten. Die Schritte wanderten auf und ab. Der Mann hatte offensichtlich gehört, wie sie in den Tunnel eingedrungen war, denn er sah sich suchend um. Annelies wollte die Augen schließen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte zu viel Angst. Die Fackel qualmte. Rauch drang in ihre Nase und reizte ihre Lunge. Ein unbändiger Hustenreiz stieg in ihr auf. Dann drehte der Mann ab, kroch aus dem Tunnel und ließ sie im Dunkeln zurück. Annelies fühlte sich zu keiner Bewegung fähig. Nur ihr Herzschlag pochte ungewöhnlich laut. Gerade wollte sich die Zofe vorsichtig aus ihrem Versteck wagen, als erneut der Schein der Fackel am Eingang erschien. Der Mann kehrte zurück. Er musste kräftig sein, denn er schlüpfte so rasch durch den schmalen Zugang wie ein Aal. Als er sich aufrichtete, konnte Annelies einen Blick auf sein Gesicht werfen und zuckte heftig zurück.
*
Pater Anselm wog den Beutel mit Münzen in seiner Hand. Sie stammten aus der sonntäglichen Kollekte und waren eigentlich als Spende für die Armen gedacht. Profitieren davon würde allerdings nur noch eine von ihnen: Lola. Obwohl sich Berta von Eckmühl immer seltener in seine Träume drängte, suchte der Kaplan, von sündigem Verlangen geplagt, noch immer die Hure auf. Unzählige Narben auf seinem Rücken zeugten von genauso vielen gescheiterten Versuchen, der Sünde zu widerstehen. Einmal geweckt, ließ ihn das Verlangen nicht mehr los. Er bestrafte sich für seine Schwäche, aber das änderte nichts daran, dass sie ihn immer wieder bezwang. Auch heute trieb es ihn in die warme, nach Rosenblüten duftende Hütte, die etwas abseits vom Dorf unterhalb der Burg lag. Am Morgen hatte er der Hure die Beichte abgenommen. Was sie ihm zugeflüstert hatte, brachte sein Blut zum Kochen. Keine ruhige Minute hatte er mehr gehabt und nur noch daran denken müssen, wie es wäre, heute Nacht der Hure beizuwohnen. Er hatte versucht sich ins Gebet zu versenken, doch seine Gedanken waren nicht um Gott, sondern um Lola gekreist. Der Kaplan wusste, es gab nur ein einziges Mittel gegen seine zwanghaften Fantasien. Er musste zur Hure gehen. Lola wusste, was der Pater wollte, und begab sich stets – nachdem er ihr einen Beutel mit Münzen in die Hand gedrückt hatte – an den geheimen Ort. Schon der Gedanke daran brachte ihn in Wallung. Pater Anselms
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