Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
gar bis hinter die Mauern von Prag? Der Gedanke ließ sie schaudern. Wo sollten sie dann noch hin? Arigund wischte sich eine Träne von den Wangen. Sie war müde. Sie war hungrig, und zu allem Überfluss begann es erneut zu schneien. Dicke Flocken sanken geräuschlos zu Boden. Heute Nacht würde sie gewiss erfrieren.
*
Heinrich von Meißen rieb sich genüsslich über den Bauch und trank den letzten Schluck Wein aus.
»Wir sollten uns zurück ins Haus unseres Gastgebers begeben«, schlug der junge Ritter vor. »Es ist schon dunkel, und man wird die Türen schließen wollen.«
Jakob nickte. Auch ihm wurden die Augen schwer. Er sehnte sich nach dem weichen, mit Gänsedaunen gestopften Bett, das ihn heute Nacht angenehm warm halten würde. Auch hatte der Hausherr, ein Freund seines Vaters, den beiden einen eigenen Domestiken zur Verfügung gestellt, der ihnen jeden Wunsch von den Augen ablas. Mittlerweile wusste der Kaufmannssohn solche Annehmlichkeiten zu schätzen. Zu Beginn seiner Reise hatte er das Abenteuer in vollen Zügen genossen. Er fand es aufregend, in einer einfachen Gaststätte abzusteigen und von finsteren Gestalten durch rauchiges Kerzenlicht eindringlich gemustert zu werden. Sein ganzes junges Leben lang hatte man den Patriziersohn mit Ermahnungen, Anweisungen und Verboten traktiert. Er hatte sich danach gesehnt, von der Kandare gelassen zu werden und das richtige Leben zu kosten. Diese Reise war für ihn wie ein Ausbruch aus seiner behüteten, aber todlangweiligen Welt gewesen. Nach den ersten Wanzenstichen und rot gefrorenen Zehen hatte sich Jakobs Abenteuerlust langsam gelegt. Mittlerweile sehnte er sich danach, endlich Prag zu erreichen und in einem weichen Bett zu schlafen. Auch das Erlebnis mit den Taschendieben am heutigen Tag weckte in ihm eher Ärger als Tatendrang. Nur die junge Frau mit der wunderbaren Stimme ließ ihm keine Ruhe. So schlug er vor: »Lasst uns noch einmal über den Marktplatz gehen. Ich würde zu gerne wissen, wer sich nun wirklich hinter dieser Stimme verbirgt.«
Heinrich seufzte. Sein Schützling war nur schwer von etwas abzubringen, das seine Neugier geweckt hatte. Allerdings war sich der Ritter sicher, dass die Bühne leer sein würde, denn in Kürze würde die Kirchenglocke zum Abendgottesdienst läuten, was gleichzeitig den Markttag beendete. Aber was konnte es schaden, dem Buben seinen Willen zu lassen? Wenigstens würde er dann seine Ruhe bekommen. Ergeben nickte Heinrich und beglich die Rechnung. Das Gedränge in den Gässchen hatte bereits merklich nachgelassen, was vermutlich daran lag, dass es immer noch heftig schneite. Der Ritter zog den Kopf ein und blinzelte sich die Schneeflocken von den Wimpern. Mit langen Schritten überquerten sie den Markt. Die meisten Stände waren bereits abgeräumt, und kaum ein Bauer aus der Gegend bot noch etwas feil. Lediglich eine uralte, fast kahle Tuchhändlerin harrte in der Kälte aus. Vermutlich blieb ihr nichts anderes übrig, da der Tagesumsatz nicht einmal die Standgebühr deckte. Ihre Ware war ungewöhnlich, weshalb sie vermutlich so wenig davon verkaufte. Das grobe Leinen war mit einfachen Mustern bedruckt, die vermutlich mit Modeln, hölzernen Druckstempeln, aufgetragen wurden, denn sie wiederholten sich beständig. Jakob blieb kurz stehen und besah sich die Ware genauer. Die Muster waren liebevoll gestaltet, kleine Punkte, die zuweilen eine Figur ergaben oder eine Blume.
Die Alte öffnete ihre vor Kälte blauen Lippen. Ihre Stimme war brüchig, und sie sprach mit einem ungewöhnlichen Akzent: »Herr, mögt Ihr mehr Licht haben? Es ist schon recht dunkel.«
Ihre mageren Finger, die nicht einmal durch Fingerlinge geschützt waren, reichten ihm einen Stummel mit einem Talglicht. Jetzt erst entdeckte Jakob, dass die Muster von einer tiefblauen Farbe waren, deren Intensität ihn überraschte.
»Sag mir, Mütterlein, wie kommst du nur zu so einem erstaunlichen Blau? Benutzt ihr etwa nicht Färberwaid?«
»Es ehrt mich, wenn unsere Kunst Euren Zuspruch findet, Herr«, gab die Alte ihm ausweichend zur Antwort. »Wollt ihr einen Ballen Tuch mitnehmen, als Geschenk für Schwester oder Mutter?«
Prüfend hatte Jakob den Stoff zwischen den Fingern gerieben. »Das Leinen erscheint mir dafür zu grob, zudem reisen wir mit leichtem Gepäck.«
Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht der Alten breit. Heinrich atmete auf. Er hatte schon befürchtet, Jakob würde nicht widerstehen können, wie schon öfter auf der Reise. Sie
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