Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
fahrendem Volk. Die Dichtung glich eher der Euren.«
Der Tuchhändlerssohn verschränkte die Arme vor der Brust. Heinrich nickte zustimmend und fuhr sich nachdenklich über das bartlose Kinn. Der Junge hatte Recht. »Ich bewundere deinen Scharfsinn, Jakob. Die Dichtung war wirklich außerordentlich sorgfältig verfasst und der Vortrag frei von Fehlern. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dass eine Wandersängerin die Strophen vortrug, hätte ich geschworen, sie stammten aus der Kehle eines echten Troubadours. Zudem habe ich die Verse noch nie vernommen, und doch klangen sie vertraut.«
»Aber das passt doch alles nicht zusammen!«, stellte Jakob aufgeregt fest. Er hatte bislang kaum an seinem Würzwein genippt und fuchtelte nun so wild mit den Händen herum, dass man befürchten musste, er würde den kostbaren Tropfen in Kürze über den Tisch verteilen. Besänftigend legte Heinrich seine Hand auf diejenige seines jungen Reisegefährten.
»Beruhige dich bitte und zapple nicht so aufgeregt. Man wird schon aufmerksam auf uns. Zudem kommt gerade unser Essen. Hol dein Messer heraus! Wir wollen nachher weiterreden.«
*
Hastig hob Arigund die Münzen auf. Viele waren es nicht, aber zusammen würden sie zumindest für eine warme Mahlzeit reichen. Die junge Frau wunderte sich, dass ihre Gefährten nicht einmal einen Hut hatten herumgehen lassen. Schätzten sie ihre Sangeskunst als so gering ein? Ärgerlich beschloss sie, ihre Einnahmen für sich zu behalten, und stellte sich schon vor, wie sie langsam und genüsslich einen Steckrübeneintopf schlürfen würde. Sie verbarg ihren geringen Ertrag in einem Tuch und kletterte die wackeligen Stufen von der Bühne herunter.
Ein rotgesichtiger Bauer verstellte ihr den Weg und betrachtete sie mit lüsternen Augen. Ganz nebenbei öffnete er die Faust. Ein Prager Groschen leuchtete ihr entgegen. Viel Geld für einen Bauern. Ein Vermögen, wenn einem der Magen knurrte. Arigund war klar, wie sie das Geldstück erlangen konnte. Lange starrte sie auf die Münze. Wer sollte es ihr in ihrer Lage verdenken, einmal das Unaussprechliche zu tun? Einmal diesem Mann zu Willen sein, um mit diesem Geld ein warmes Essen, einen guten Mantel und vielleicht sogar einen wollenen Schal zu kaufen, damit sie nicht erfrieren würde.
Arigund stand da und fühlte, wie die Versuchung ihr Herz schneller schlagen ließ. Ihre vor Kälte roten Finger öffneten sich und ballten sich wieder zur Faust. Zorn stieg in ihr hoch. Wut auf ihren Vater, der sie gewinnbringend verscherbelt hatte, auf Wirtho, der sie hasste und umbringen wollte, und natürlich auf ihre Begleiter, die alles Geld verspielten und versoffen. Der Freier versuchte es mit einem Lächeln, wobei er eine Reihe fauliger Zähne entblößte. Arigund schluckte. Sie schloss die Augen. Eine energische Hand packte sie an der Schulter.
»Komm!«, befahl Vaclav und zerrte sie in die Menschenmenge hinein. Sie zuckte zusammen wie ein ertappter Dieb und ging willenlos mit. Der Prager Groschen entschwand aus ihrem Bewusstsein, wurde verdrängt von einem wütenden Vaclav. Hatte er beobachtet, was sich an der Bühne abgespielt hatte? Grob schob er sie vor sich her, vom Marktplatz weg in eine kleine, von Küchenabfällen übersäte Gasse. Der saubere Neuschnee bestand hier nur noch aus matschgrauer Pampe, vermischt mit Urin und Unrat. Die eiskalte Flüssigkeit fraß sich in ihre wollenen Strümpfe.
»Ich hab Hunger«, jammerte Arigund. »Ich will etwas zu essen.«
»Hör auf mir herzutriefeln«, stauchte Vaclav sie zurecht. Der Geruch nach Branntwein durchsetzte seinen Atem. »Ich hab schon genug um die Ohren.«
In Erwartung der nächsten Spelunke ließ sie sich mitziehen. Unvermittelt schloss sich Friedl wieder an. Ihr spärliches Reisegepäck hatte er flüchtig über die Schultern geworfen. Zudem schlich er mit dem Gesicht eines geprügelten Hundes hinter ihnen her, statt wie sonst an Václavs Seite zu gehen. Der spähte in jede Gasse und jeden Winkel. Zielstrebig arbeiteten sie sich aus der kleinen Ansiedlung heraus. Arigund wurde mulmig.
»Bleiben wir heute Nacht nicht hier?«, fragte sie vorsichtig.
»Halt endlich dein Maul, blödes Miststück!«, zischte Vaclav mit funkelnden Augen.
Verschreckt zog die junge Frau den Kopf ein. Was hatte sie jetzt nur schon wieder falschgemacht? So hatte sie ihre beiden Begleiter nicht mehr erlebt, seit sie Bayern hinter sich gelassen hatten. Hatten Wirthos Späher sie entdeckt? Reichte sein Einfluss
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