Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
waren die anderen außer Sichtweite, rannte sie bis ans hinterste Ende des Gartens und verkroch sich in der Laube.
*
Reimar von Brennberg rieb sich die schmerzenden Rippen. Nicht einmal die Laute konnte er vernünftig halten. Der gewölbte Bauch des Instruments drückte genau auf die Stelle unter seiner Armbeuge, die mit dem Holzschwert seines Übungspartners Bekanntschaft geschlossen hatte. Der Waffenmeister kommentierte diese Verletzung lediglich mit der Bemerkung, dass ein echtes Schwert die Brust durchbohrt und Reimar getötet hätte. Doch noch viel mehr als die Rippen schmerzte der Spott seines Bruders Wirtho. Der meinte, sein kleiner Bruder sei ein Schwächling und würde nie ein ehrenhafter Ritter werden. Schämen müsse man sich, einen solchen Versager in der Familie zu haben! Reimar verabscheute Wirtho, Bruder hin oder her! Als würde er jemals sein Glück im Tjost suchen. Reimars Wunsch war es, zu singen. Es sollte ihm gelingen, Menschen zu verzaubern, sie lachen und weinen zu machen. Pater Anselm hatte erzählt, dass man im Kloster gute Stimmen zu schätzen wisse, und ihm die Annehmlichkeiten des Ordenslebens gepriesen.
Reimar blieb skeptisch, wenn der Burgkaplan das Dasein hinter Klostermauern verherrlichte, aber in einem hatte er sicher Recht: Ein Schwert würde Reimar nicht mehr führen müssen. Andererseits würde er aber nur noch Choräle singen dürfen, dabei liebte er doch Balladen so sehr. Im letzten Sommer hatte die Burg einen Ritter Troubar, einen Troubadour, aus dem fernen Frankreich beherbergt. Der hatte Verse über die Heldentaten des Ritters Artus rezitiert und eine Serenade über die Schönheit und Güte von Reimars Mutter geschrieben. Vielleicht würde man ja einmal Reimars Verse singen? Damit würde er viel mehr Ruhm ernten, als Wirtho mit seinem blöden Schwert! Der Junge schüttelte den Kopf und seufzte, er würde schon gerne auch Heldentaten vollbringen, doch dazu fehlten Reimar Mut und Muskeln. Seine Heldentaten fanden in seinen Träumen statt. Ganz von selbst wurden sie zu Versen, sobald seine Finger über die Saiten der Laute strichen. Doch abgesehen von seiner Mutter wusste das hier niemand zu schätzen.
Unglücklich begann der junge Adelige sein Instrument zu stimmen, als er plötzlich ein herzzerreißendes Schluchzen vernahm. Reimar hielt inne und lauschte. Erneut hörte er das tiefe Wehklagen. Der Junge erhob sich. Vorsichtig tastete er sich an der Mauer entlang, darauf achtend, dass er kein Geräusch von sich gab. Wer ließ hier hinter den schweren Mauern der Burg seinem Herzeleid freien Lauf? Reimar schaute sich im Garten um und entdeckte die Kaufmannstochter zusammengekauert hinter einer Hecke, den Kopf auf die Knie gelegt. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Verlegen stand Reimar kaum zwei Meter entfernt und trat von einem Bein aufs andere. Was tun? Was entsprach der Schicklichkeit? Weggehen und so tun, als hätte er nichts gesehen? Aber das brachte Reimar nicht über sich. Stattdessen ließ er sich zu Boden gleiten, griff nach seiner Laute und schlug die Saiten. Wie von selbst kam ihm ein Lied in den Sinn, das er kürzlich erst gelernt hatte.
»Weh mir, du holde Jungfrau, die du mir dein Lächeln versagst …«
Seine Stimme zitterte bei den ersten Strophen, und beinahe hätte er einen Fehlgriff getan. Doch als er Arigunds freundlichen Blick auf sich spürte, wurde ihm leichter ums Herz, und die Worte flossen wie von selbst aus seinem Mund.
*
»Man mag es nicht für möglich halten, dass Wirtho und er Brüder sind«, schloss Arigund aufgeregt ihre Erzählung. Sie nippte mit bebenden Lippen an der warmen Milch, die Annelies ihr als Nachttrunk gebracht hatte.
»In der Tat, Herrin«, bestätigte Annelies, doch sie schien gar nicht richtig zuzuhören.
»Reimar ist so liebenswürdig und gebildet, ein richtiger Minneritter eben. Ich finde, er passt gar nicht in diese Familie.«
»Wirklich?« Annelies klang skeptisch, aber davon bemerkte Arigund in ihrer Begeisterung nichts. Sie war einfach nur froh, dass es auf dieser Burg scheinbar doch einen freundlichen, zivilisierten Menschen gab – einmal abgesehen von Pater Anselm. Der aber war ja ein Priester und kam insofern als Freund und Vertrauter nicht in Frage.
»Wir haben uns über Platos Höhlengleichnis ausgetauscht, und Reimar meint übrigens – genau wie ich –, dass das alles Blödsinn ist. Unsere Welt kann nicht bloß aus Schatten bestehen, wo wir doch den zarten Hauch der Seide fühlen, den verlockenden Duft der
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