Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
Ganz im Gegenteil. Lukas, der jüngste aller Stallburschen, hockte wie ein Gänschen inmitten der jungen Pferde und rupfte Blüten, die er dann aussaugte. Als er Annelies entdeckte, öffnete er seinen Mund und grinste sie an, wobei er die Zahnlücken entblößte, die sein ausfallendes Milchgebiss hinterlassen hatte.
»Gott zum Gruße, Jungfer Lisl«, lispelte er zwischen ihnen hindurch. »Hast ein paar Schuhe für mich übrig?«
»Brauchst keine, die Schmutzschicht zwischen deinen Zehen ist Sohle genug.« Annelies grinste.
Der Knabe wackelte mit seinen Zehen und lachte zurück.
»Was nuckelst du denn an den Blumen. Bist doch keine Biene?«
»Schmeckt süß. Willste auch mal?« Lukki bückte sich und rupfte Weißklee ab. Dann zupfte er eine der Blüten heraus und reichte sie Annelies.
»Musst nur dran saugen«, ermutigte sie der Kleine. »Wie beim Küssen an der Zunge deines Schatzes.«
Annelies drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Was weißt du denn davon, Bursche? Du willst mich nur reinlegen mit der Blüte. Die schmeckt gewiss nicht süß.«
»Bei meiner Seele, Jungfer, ich schwör’s. Wenn ich lüg, kriegst einen Kuss von mir, wenn ich Recht hab, gibst du mir einen.«
»Bankert!«, schimpfte Annelies und versuchte sein Ohr zu erwischen, doch Lukki hatte reichlich Erfahrung darin, sich nicht erwischen zu lassen. Flugs duckte er sich unter Annelies’ Hand hindurch und machte ihr eine lange Nase.
»Warte, ich krieg dich schon!«, rief die Zofe und stürmte hinter ihm her. Doch ihre Füße waren nicht ans Barfußlaufen gewöhnt. Sie trat auf einen herausragenden Stein und purzelte mitten ins Gras. Die Pferde erschraken und hoppelten aufgeregt ein Stück den Hang hinunter. Lukki hielt sich den Bauch vor Lachen.
»Ihr scheint euch ja prächtig zu vergnügen.«
Annelies sah sich um. Eine stämmige Gestalt warf ihren Schatten auf sie. Das Mädchen schirmte sich die Augen mit der Hand ab und erkannte Matthias.
»Ich wollte ihr gerade zeigen, wie küssen geht!«, rief Lukki und hüpfte auf einen der schwarzgrauen Felsen, die aussahen, als hätte ein Riese auf dem Rasen Murmeln gespielt und sie dann im Gras liegen lassen. »Sie weiß nämlich noch nicht, wie das geht!«
»Aha, so eine bist du«, brummte der Knecht. »Kaum lässt man dich allein, suchst du dir schon einen neuen Verehrer. Aber glaub nur nicht, dass ich dich so einfach wieder freigebe. Du gehörst mir!«
Mit diesen Worten fasste er Annelies um die Hüften, klemmte sie wie einen Sack Hafer unter den Arm und trug sie quer über die Wiese. Annelies wehrte sich quietschend und schlug halbherzig mit ihren Fäusten auf Matthias’ Oberschenkel, während Lukki aufgeregt um die beiden herumhüpfte und Matthias anspornte. Der Knecht bog die Äste einer der großen Eichen beiseite, die dicht am Rande des Waldes standen.
»Jetzt troll dich«, rief der Knecht dem Jungen zu, »und halt die Augen offen!«
Der hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut!« Zu Annelies raunte er: »Also wenn du von dem da«, er wies mit dem Kinn zu Matthias, »genug hast, komm zu mir, damit du Honig saugen lernst.« Damit sprang er lachend davon.
Annelies schlüpfte unter Matthias’ Arm durch. Verwundert stellte sie fest, dass sie dabei seine Hitze spüren konnte. Allein das ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie sah sich um. Unter dem Stamm war genug Platz für zwei. Ein weicher Teppich aus Frauenhaarmoos bildete ein angenehmes Lager. Matthias ließ sich auf das weiche Polster fallen und zog Annelies zu sich herab, bis sie auf ihm saß wie auf einem Pferd. Annelies wurde wieder rot und hasste sich dafür. Belustigt kitzelte Matthias sie mit einem langen Grashalm am Kinn. Er blinzelte in die Sonnenstrahlen, die trotz des dichten Blattwerks ihr Lichtspiel veranstalteten, und griff nach ihren Hüften. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Verlegen ließ sie sich neben dem Rotbart zu Boden gleiten. Der schlang die Arme um sie und schloss verträumt die Augen. Sie beschloss, erst einmal nur neben ihm im Gras zu liegen. Er duftete nach Löwenzahn und Pferdestall.
»Ich hatte schon Angst, du würdest nicht kommen«, flüsterte der Knecht. Erleichtert atmete Annelies auf. Er mochte sie also immer noch.
»Mir ging es genauso«, seufzte sie.
Stürmisch suchten Matthias’ Lippen die ihren. Seine Zunge umspielte ihre kleinen, elfenbeinernen Zähne und bahnte sich den Weg in ihren Mund. Ihre Zweifel, Matthias könnte sie weniger begehren, weil sie ihm im Schafstall nicht
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