Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
geschundenen Körper mühsam nach vorne schob. Mit einem Schlag flog die Falltür auf. Fackelschein drang weit in den Kerker ein und beleuchtete Matthias zusammengekrümmte Gestalt. Annelies rannen stumme Tränen über die Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper. Jetzt war alles aus. Gleich würde der junge Ritter sie entdecken. Wirtho würde Matthias gewiss hinrichten lassen. Sie selbst würde zumindest Prügel beziehen oder an den Schandpfahl gebunden werden. Möglicherweise würde dem Truchsess eine noch viel schlimmere Strafe für sie einfallen: Vielleicht blendete man ihre Augen, und sie würde für immer in Finsternis gefangen sein. Oder sie würde verstümmelt werden, damit alle Welt sah, was für ein schändliches Leben sie geführt hatte.
»Lebt er noch?«, brüllte Wirtho von oben. Er sah sie tatsächlich nicht. Noch nicht.
Zur Bestätigung bewegte Matthias vorsichtig den Kopf. »Zäher Bursche«, knurrte der junge Ritter und ließ eine Speichelfontäne herabregnen. Dann knallte er die Falltür wieder zu. Annelies hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Dann war alles still. Sie sackte zu Boden. Die Zofe presste ihr Ohr an die Steine, die sie von der Außenwelt trennten. Kein Laut war zu hören.
»Annelies?«, flüsterte Matthias.
Sie antwortete mit einem Schluchzer.
»Du brauchst nicht zu weinen, Liebes. Ich bin ja bei dir. Ich beschütze dich. Und bestimmt kommt die Resl dich recht schnell holen. Komm zu mir herüber, damit wir uns gegenseitig wärmen können.«
Aber Annelies war wie erstarrt.
*
Arigund sehnte voller Ungeduld das Ende der täglichen Nähstunde herbei. Seit ihrem Streit mit Berta von Eckmühl war die Stimmung im Frauenzimmer unerträglich. Die junge Adelige ließ keine Gelegenheit verstreichen, sich über Arigunds mangelndes Geschick im Nähen auszulassen.
»Wie sollen wir das nur schaffen«, seufzte Berta hinter ihrem Webstuhl. »Bis Weihnachten müssen wir für jeden der Burgmannen ein Hemd und eine Hose genäht haben.«
Sie warf einen vielsagenden Blick auf Arigund. »Wir sollten nach einer guten Näherin Ausschau halten, die uns zur Hand geht.«
»Wie wäre es, wenn du statt Deckchen für deine Aussteuer graues Leinen weben würdest«, konterte die Kaufmannstochter, »damit wir erst einmal Stoff für Kleidungsstücke haben.«
Die Augen der beiden kreuzten sich. Arigund gab keine Handbreit nach und funkelte, was das Zeug hielt. Die beiden Rabensteins warfen sich vielsagende Blicke zu. Maria zu Reichenegg seufzte leise, tat aber nichts. Die Burgherrin war wieder einmal abwesend. Sie überwachte die Reparaturarbeiten im Pferdestall. Arigund war sich ziemlich sicher, dass sie – würde man sie nur lassen – dort bessere Dienste leisten könnte. Am Stickrahmen war ihr Talent vergeudet. Verbissen hämmerte sie die Nadel durch den Stoff und besah sich ihre schiefen Nähte. Warum ließ man nicht jedermann das tun, was er am besten konnte? Gott musste sich doch etwas dabei gedacht haben, als er den Menschen unterschiedliche Fähigkeiten verlieh. Mürrisch schaute sie nach dem Stand der Sonne, doch die verbarg sich heute hinter grauen Wolken, die ein kalter Ostwind vor sich hertrieb. Tausend Nadelstiche später durfte Arigund endlich den krummen Rücken strecken. Jetzt wollte sie als Allererstes Annelies von dem Gespräch mit der Burgherrin berichten. Sie hielt eine der Mägde auf und ließ unter dem Vorwand, Annelies solle den Kamin ihrer Kemenate befeuern, nach der Zofe rufen. Dann machte sie noch einen kurzen Umweg, um nach Reimar zu sehen. Behutsam öffnete sie die Tür zu seinem Schlafgemach. Der junge Brennberger schlief schwer atmend. Seine Amme, eine Frau mit graubraunen Haaren und ausladendem Busen, kauerte am Fußende und bedeutete Arigund, später wiederzukommen. Auf Zehenspitzen schlich das Mädchen aus dem Zimmer. Erst im Flur spurtete sie los. Nun wurde es aber Zeit. Annelies wartete bestimmt schon ungeduldig. Arigund huschte an Geharnischten vorbei, die Treppe hoch, rumpelte eine Magd an, die beinahe den Wasserkrug fallen ließ und riss die Tür zu ihrer Kemenate auf.
»Annelies, stell dir vor …« Arigund unterbrach sich. Verblüfft starrte sie auf das stämmige Mädchen, das sich mit ihrer Feuerstelle abplagte und dabei mehr Rauch als Feuer erzeugte. Das Mädchen zuckte sichtlich zusammen, sprang jedoch auf und knickste artig. Arigund beachtete die höfliche Geste nicht. »Wo ist meine Zofe? Warum ist sie nicht hier?«, fuhr sie das Mädchen an.
Das
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