Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
aufgeschlagenen Folianten zu versenken, während die Lanzknechte für Ruhe sorgten. Wie von Zauberhand gerufen, trat plötzlich Pater Anselm hinter den Truchsess und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin Reimar von Brennberg seine Stimme erhob: »Seht, unser Heiland sagt: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr! Aber seht auch, welch eine Ehre es ist, ein Knecht zu sein.«
Der Truchsess gab das Buch zurück und nahm wieder Platz. In der Menge war es mittlerweile mucksmäuschenstill. Arigund kam nicht umhin, die taktische Klugheit des Burgherren zu bewundern. Mit diesem Bibelzitat hatte er die Verhältnisse klargelegt. Im Grunde war der Reitknecht schon so gut wie schuldig gesprochen.
»Nun, Matthias, ist es wahr, dass du ein höriger Knecht der Edelfreien zu Brennberg bist?«, donnerte die Stimme des Truchsess über die Köpfe der Menschen. Der Rotschopf nickte matt. An seiner Seite befand sich niemand, der für ihn das Wort hätte ergreifen können.
»Entspricht es den Tatsachen, dass du dich über deinen Herrn zu erheben suchtest, indem du sein Pferd bestiegen hast?«
Ein weiteres geschicktes Manöver. Der Truchsess schien gar nicht über die Frage entscheiden zu wollen, ob der Rotschopf das Pferd gestohlen hatte. Und an der Tatsache, dass Matthias geritten war, gab es keinen Zweifel. Arigund sah zur Burgherrin hinüber, aber die machte keine Anstalten, den Rotbart zu verteidigen. Galt ihr Versprechen so wenig? Das wollte die Kaufmannstochter nicht glauben. Gewiss würde Kunigund von Brennberg noch ihre Stimme erheben. Arigund versuchte, Annelies in der Menge auszumachen. Sie entdeckte das Mädchen an Resls Seite. Die Zofe wirkte blass und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Wirtho dagegen sah ausgesprochen zufrieden aus, als der Knecht erneut nickte und weinend auf dem Gras zusammenbrach. Der Truchsess räusperte sich. Seine Stimme hatte etwas an Schärfe verloren, als er sich wieder an den Knecht wandte: »Bereust du deinen Frevel, Matthias, Unfreier der Brennberger?«
»Ich bereue«, jammerte der Angeklagte, mittlerweile nur noch ein Häufchen Elend.
Der Truchsess erhob sich würdevoll und tat einen Schritt auf den Knecht zu. Seine Stimme war jetzt wieder laut und gebieterisch: »So höre das Urteil, das ich über dich spreche: Du sollst an den Schandpfahl gebunden werden und fünf Schläge mit der Rute erhalten. Sodann sollst du einen Tag und eine Nacht dortbleiben, auf dass jedermann deine Schande sehen kann. Fortan wirst du unter den Pferdehirten im Wald leben und deinen Fuß nur noch in die Burg setzen, wenn dein Herr dich ruft.«
Arigund atmete auf. Also hatte die Burgherrin ihr Versprechen gehalten: Im Grunde war Matthias mit einem milden Urteil davongekommen. Er hatte zwar Ansehen und Status als Rossknecht eingebüßt – die Pferdehirten standen in der Hierarchie der Burg ganz unten –, aber der Truchsess hatte ihm das Leben gelassen und damit den Pöbel ruhiggestellt. Tatsächlich hörte man zustimmendes Raunen in der Menge. Die Burgedlen lobten flüsternd die Weisheit des Burgherren und sprachen sogar von einem »Salomonischen Urteil«.
Nur Wirtho wirkte überrascht. Er war offenbar der festen Überzeugung gewesen, dass Matthias zum letzten Mal die Sonne hatte aufgehen sehen. Er warf seinem Vater fragende Blicke zu, doch der wandte sich einfach um und ging zurück zur Burg. Matthias wurde von den Wachknechten zum Schandpfahl gezerrt, wo das Urteil sofort vollzogen werden sollte. Einen Moment stand Arigund unschlüssig, während sie von den anderen hin und her gestoßen wurde, die entweder dem Truchsess folgten oder zurück in ihre Weiler strebten. Mit einem Mal stand Berta von Eckmühl vor ihr, an ihrer Seite ein hoch aufgerichteter Wirtho.
»Wir wollen der Bestrafung des Strolches beiwohnen und sicherstellen, dass sie auch ordnungsgemäß ausgeführt wird«, wandte die Edelfreie das Wort an sie. Ihr Begleiter sah einfach über die Kaufmannstochter hinweg. »Wie wäre es, wenn du uns begleitest, Arigund von Regensburg.«
Bertas Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Rolle der zukünftigen Burgherrin bereits voll und ganz verinnerlicht hatte und von der anderen erwartete, dass die sich ihren Wünschen beugte.
Arigund verneigte sich gerade noch angemessen vor Wirtho und erwiderte: »Ich danke sehr für die Einladung, allerdings hat Frau Kunigund andere Pflichten für mich, denen ich augenblicklich nachkommen muss. Deshalb fürchte ich, ihr werdet auf meine Anwesenheit
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