Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
verzichten müssen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Arigund die beiden stehen und flüchtete Richtung Pallas. Matthias’ Schmerzensschreie waren auch dort noch zu hören. Als Annelies später in Arigunds Kemenate kam, suchte sie nicht wie sonst Trost bei ihrer Herrin, sondern blieb einsilbig. Die Patrizierin fühlte sich auf einmal schuldig, obwohl sie alles getan hatte, was in ihrer Macht stand.
»Annelies, es tut mir leid«, flüsterte Arigund, »mehr konnte ich einfach nicht tun.«
»Ich weiß«, bestätigte Annelies mit belegter Zunge, »aber es war schlimm, ihn so, so … erniedrigt zu sehen.« Eine Träne schlich sich über ihre Wange.
»Wenigstens ist er am Leben«, versuchte Arigund die Zofe zu trösten. »Frau Kunigund hat gewiss Fürsprache gehalten.«
»Fürsprache, ja, bei einem Tyrannen«, fuhr die Zofe hoch. »Was war da schon zu erwarten? Gerechtigkeit gewiss nicht.«
Arigund sah sie erschrocken an. So hatte sie ihre Freundin noch nie erlebt. »Sag so etwas nie wieder!«, tadelte sie. »Der Truchsess ist kein Despot, Wirtho vielleicht, aber nicht der Truchsess. Er führt sein Lehen mit strenger Hand, aber gerecht ist er.« Die Zofe senkte die Augen und trat hinter Arigund.
»Ja, Herrin«, flüsterte sie mit nur schwer verhohlenem Zorn. Ihre kalten Finger ordneten Arigunds Haar unter dem mit grünen Glasperlen verzierten Schappel.
»Annelies, ich wünschte, ich hätte mehr tun können«, lenkte die Kaufmannstochter ein. »Wir sind hier nicht in meines Vaters Haus. Mir waren die Hände gebunden.«
»Ihr habt mehr getan, als ein Unfreier für sich hätte erwarten können«, erwiderte Annelies förmlich.
»Und die Arbeit als Pferdehirte wird Matthias sicher liegen.«
»Gewiss, Herrin.«
Geschickt steckte die Zofe eine silberne Fibel fest. Annelies devote Haltung machte die Kaufmannstochter heute rasend. Ärgerlich fuhr Arigund hoch: »Was, verdammt noch mal, hätte ich denn noch machen können, Annelies? Ich sitze auf dieser Burg zwischen allen Stühlen und muss um mein eigenes Ansehen kämpfen. Euer Verhalten trägt nicht gerade dazu bei, es zu fördern.«
Erschrocken fuhr die Zofe zurück. Dann senkte sie den Blick und murmelte: »Wenn Ihr keine Aufgabe mehr für mich habt, Herrin, und es erlaubt, dann würde ich gerne gehen. In der Küche wartet eine Menge Arbeit auf mich.«
Genervt entließ Arigund das Mädchen mit einem Wink. Es war, als habe jeder Hieb, den Matthias auf seinem geschundenen Körper empfangen hatte, Wut und Verachtung für die Adelsherren in ihrer Zofe genährt. Aber glaubte Annelies tatsächlich, sie, Arigund, Tochter eines Patriziers, der niemals Hand an seine Dienerschaft gelegt hätte, habe sich nicht weniger hilflos gefühlt? Sie waren nun einmal auf einer vermaledeiten Burg und mussten sich anpassen. Im Gegensatz zu Annelies versuchte Arigund, sich an eine Empfehlung zu halten, die Pater David ihr eingebläut hatte: Bist du in Rom, verhalte dich wie ein Römer! Warum wollte Annelies das nicht verstehen? Stattdessen stellte sie ihre Freundschaft in Zweifel. Das war ungerecht. Arigund hatte wirklich alles in ihrer Macht Stehende unternommen. Traurig ließ sie sich auf dem kleinen Holzhocker nieder. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt. Schließlich schlich sie wie ein geschundener Gaul hinunter zu Reimars Kemenate. Sie traf den jungen Knappen voll angekleidet und auf seinem Lager sitzend an. Seine Augen leuchteten, als er die Kaufmannstochter eintreten sah.
»Tausend Sterne verglühen, und tausend Rosen verströmen ihren Duft, wenn du mich mit deiner Anwesenheit beglückst«, säuselte er, und seine Blicke glitten anerkennend über Arigunds Gewand, dessen zartes Blau an die Sommerblüte der Wegwarte erinnerte.
»Wie schön, dich bei so guter Gesundheit anzutreffen, Reimar«, entgegnete Arigund. Ihr Herz wurde leichter, als sie dem Jungen in die Augen blickte. Der nahm ihre Hand und ließ sich vorsichtig von ihr aufhelfen.
»Mutter meint, ein kleiner Spaziergang in den Garten könnte mir guttun«, meinte Reimar munter. »Eigentlich wollte sie mich selbst begleiten, aber jetzt bist du da und wir könnten gemeinsam zu den Rosen gehen, nach deren Duft ich mich sehne. Zudem: Ein Ritter kann sich ja kaum immer an den Rockzipfel seiner Mutter hängen.«
Ernst hob Arigund den Zeigefinger: »Gott fordert, dass wir unsere Eltern in Ehren halten. Die Frau Kunigund ist zudem eine edle Dame, die gewiss nur dein Wohl im Sinn hat.«
»Ganz ohne Zweifel«, erwiderte
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