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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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passiert war, doch die Antwort, die ich ihm geben konnte, würde mir niemand glauben.
    »Wir müssen lügen«, erklärte Alfanger. »Sonst wird man dich für verrückt halten und du weißt, das halbe Dorf hält dich ohnehin schon für eine Hexe. Es hat zu lange keinen Wanifen mehr bei den Ata gegeben. Die Menschen haben vergessen.«
    »Lügen …«, flüsterte ich.
    »Gorman ist tot.«
    »Was?«
    »Er starb bei dem Versuch, dich zu retten.«
    »Nein!«
    »Du bist beim Kräutersammeln einem Bären begegnet. Gorman hat gegen ihn gekämpft. Er wollte dich beschützen …«
    »Das kann ich nicht. Wir dürfen Vater und die anderen nicht anlügen.«
    »Also willst du ihnen erzählen, der Sohn des Häuptlings hat sich in einen Waldgeist verwandelt?«
    Ich stockte. Ich sah Weyrefs Miene fast vor mir, und die meines Vaters.
    »Versteh doch, Ainwa, der Tod ist etwas, womit wir zu leben gelernt haben. Jeden Winter sterben die Alten und auch einige Junge. Auch, wenn es schwerfällt, sie werden ihren Schmerz irgendwann überwinden.«
    »Vielleicht«, antwortete ich. »Aber allein der Gedanke, Gorman wäre tot …«
    »Ich werde sprechen«, unterbrach mich Alfanger. »Ich werde ihnen sagen, das Geschehene schmerzt dich zu sehr, um es noch einmal zu erzählen.«
    »Sie werden es aus meinem Mund hören wollen.«
    »Du wirst schweigen«, sagte Alfanger streng. »Im Augenblick ist es besser so.«
    »Ich wünschte, er wäre hier«, flüsterte ich. »Es fühlt sich an wie damals … nur schlimmer.«
    Ich versuchte mir einzureden, die Trauer über Gormans Verlust würde nicht ewig anhalten, nur so lange, bis ich mit einem unversehrten Gorman nach Ataheim zurückkehrte. Und wenn ich je ein Ziel vor Augen gehabt hatte, das ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen wollte, dann dieses.
     
    Das große Ratsfeuer wurde einmal jeden Vollmond abgehalten und alle in Ataheim nahmen daran teil. In der Regel wurden wichtige Angelegenheiten besprochen, die den ganzen Stamm betrafen. Dieses Ratsfeuer hätte ein besonderes werden sollen: Gorman wäre zum neuen Häuptling der Ata erklärt worden … und jetzt würde Alfanger seinen Tod verkünden.
    Gorman schien mir immer wie gemacht dazu, ein guter Häuptling zu werden, obwohl er selbst nie viel über seine Zukunft gesprochen hatte. In ganz Ataheim gab es niemanden, der Gorman nicht mochte. Die in seiner Nähe fühlten sich, als säßen sie an einem wärmenden Lagerfeuer, wenn sie mit ihm sprachen, obwohl es ihm manchmal schwerfiel, sich auszudrücken. Er war besonnen, stark und herzlich, eigentlich das genaue Gegenteil von mir, wenn ich darüber nachdachte.
    So sehr die Ata Gorman liebten, so unheimlich war ich ihnen. Alfangers Hexenmädchen. Die Geisterseherin … Ich wusste nicht, was für Namen sie noch für mich hatten. Viele gaben mir die Schuld am Tod meiner Eltern, obwohl ich meine Mutter überhaupt nicht gekannt hatte. Eine schwarzhaarige Schönheit war sie gewesen, nach dem, was Alfanger mir erzählt hatte. Sie starb bei meiner Geburt.
    Was meinen Vater anbelangte, fiel es mir schwerer, ihnen zu widersprechen. Immerhin war er bei dem Versuch gestorben, mich zu retten. Das allein war schon schlimm genug für mich, auch ohne die Vorwürfe der anderen Ata.
    Mein mutiger Vater … Er hatte sich immer weiter auf den See hinausgewagt als alle anderen und bei einem Wetter, bei dem die meisten sich in ihre Hütten verkrochen. Von ihm hatte ich meine Liebe zum Wasser geerbt. Ihn auf den See hinaus zu begleiten, war für mich immer das Größte. Vor allem abends, wenn der Wind wie von Zauberhand einschlief und der See zu einem ebenen Spiegel wurde, den die untergehende Sonne in tausend Farben tauchte. Wir hatten Reusen aus Weidenzweigen, die wir tief in den See hinunterließen. Mein Vater kannte die Stellen und wusste immer, in welcher Tiefe die Schwärme vorbeizogen.
    Ich erinnerte mich an viele gefüllte Reusen mit bläulichen Reinanken, rot bäuchigen Saiblingen und den räuberischen Seeforellen, die manchmal sogar Manneslänge erreichten.
    Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und vom Wald her drang der helle Ruf eines Waldkauzes.
    »Es wird Zeit, Ainwa«, sagte Alfanger und erhob sich. »Komm!«
    Ich folgte Alfanger über die Stege ans Ufer, wo ich bereits den hellen Lichtschein des Ratsfeuers ausmachen konnte. Die anderen Ata hatten schon um das Feuer herum Platz genommen. Ein paar Kinder warfen Büschel aus trockenem Gras in die Flammen und quietschten vergnügt,

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