Die Wanifen
Sein Prankenhieb hätte Ainwa zerschmettert, wenn ihr nicht Gorman zu Hilfe gekommen wäre. Er rammte der Bestie seinen Speer in den Bauch.
Doch bevor der Bär niederging, traf das Monstrum Gormans Kopf mit einem mächtigen Hieb, der seinen Schädel zertrümmerte.«
Erschrockenes Raunen wurde in der Menge laut. Ich wagte immer noch nicht, aufzublicken. Jedes von Alfangers Worten, alle seine Lügen, brannten wie Feuer in meinem Herz.
»Gorman war nicht tot, aber er war an der Schwelle dazu. Zwei Tage lang blieb Ainwa an seiner Seite, ohne zu essen, ohne zu schlafen und kämpfte um sein Leben.
Sie kämpfte einen aussichtslosen Kampf, den sie am Ende verlor. Gorman … Sohn der Ata … ist tot.«
Ein entsetzlicher Schrei zerriss die Stille, bevor alle anderen in furchtbares Wehklagen ausbrachen. Den Schrei meines Vaters würde ich nie vergessen. Der Schrei eines Mannes, der sich das Herz hinausreißen möchte, weil er den Schmerz nicht mehr erträgt. Ich blickte nicht auf, ich konnte ihn nicht ansehen, presste die Augenlider fest zusammen und kämpfte mit den Tränen.
Ich weiß nicht, wie lange ich am Boden kauerte, während von allen Seiten Schluchzen an meine Ohren drang. Jeder Atemzug quälte mich.
»Ainwa«, flüsterte Galsinger.
Ich zwang mich weiter, den Boden anzusehen, die Grashalme, über die das Licht des Ratsfeuers flackerte.
»Ainwa … ich glaube es nicht«, flüsterte er. »Aber ich werde es glauben, wenn ich es aus deinem Mund höre.«
Seine Stimme bebte, sie war fast schon mehr ein Schluchzen.
»Ainwa kann dir nicht antworten«, erklärte Alfanger. »Der Schmerz lähmt ihre Zunge und wird sie vielleicht nie wieder freigeben.«
»Ainwa«, wiederholte Vater, ohne auf Alfangers Worte einzugehen. »Sag mir … wo Gorman ist. Meine Tochter, sieh mich doch an.«
Ich konnte nicht mehr so tun, als wäre ich woanders, als ginge mich das Gesagte nichts an.
Langsam hob ich den Kopf und blickte in seine flehende Miene. Die Gesichter aller anderen versuchte ich auszublenden. Seines allein war schon schwer genug zu ertragen.
Ich würde lügen, ich würde ihm das sagen, worauf sie alle warteten.
Ich sah an ihm vorbei, den Hang hinauf, bis zur schwarzen Wand des nächtlichen Urwalds. Da war etwas … Bildete ich es mir nur ein, oder …? Nein. Da stand jemand. Eine finstere Gestalt wartete am Waldrand und starrte zu mir herunter.
»Gorman«, schrie ich und sprang auf. »Gorman!«
Nervöses Murmeln ging durch die Menge. Alle Köpfe wandten sich ruckartig zum Waldrand, um zu sehen, was immer ich sah – oder zu sehen geglaubt hatte.
Ich blinzelte. Verwirrt suchte ich den Waldrand nach der Gestalt ab, die eben noch dort gestanden hatte, aber sie war verschwunden.
Galsinger wandte sich mir wieder zu und musterte mich mit mitleidigem Kopfschütteln.
Ich spürte Alfangers Hand auf meiner Schulter.
»Ist schon gut, Ainwa«, sagte er so laut, dass alle es hören mussten. »Ist schon gut.«
»Großartig«, rief ich, als wir zurück in der Hütte waren. »Jetzt denken sie nicht nur, dass Gorman tot ist, sondern auch, dass ich verrückt bin!«
»Das ist nur deiner kleinen Einlage zu verdanken«, meinte Alfanger ruhig.
»Es war nicht gespielt! Da war jemand, ich bin ganz sicher.«
»Jemand, den nur du sehen kannst?«
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Was, wenn es wirklich Gorman war?«
Alfanger ließ sich müde auf sein Lager sinken.
»Glaubst du wirklich, Gorman hätte Angst vor dem Ratsfeuer gehabt, Ainwa? Wäre er es gewesen, er wäre wie eine Naturgewalt über Ataheim hereingebrochen, um dich zu holen.«
Alfanger hatte recht und der Gedanke ängstigte mich mehr, als ich zugeben wollte. Ich vermisste Gorman sehr, aber ich hatte auch Angst vor ihm.
»Worauf wartet er? Warum kommt er nicht?«
»Oh, das wird er«, brummte Alfanger. »Das wird er … Und deshalb werde ich morgen früh mit dir aufbrechen, um die Urukus zu suchen.«
Ich schüttelte energisch den Kopf.
»Gorman wollte mich auch begleiten. Du weißt, was aus ihm geworden ist.«
Alfanger lachte leise.
»Ich bin alt, Ainwa. Ich habe erkannt, dass es viel Schlimmeres gibt als den Tod.«
»Das, was Gorman passiert ist.« Seine sorgenvolle Miene schimmerte im Mondlicht.
»Schlaf jetzt. Wer weiß, wann wir wieder ein Dach über dem Kopf haben werden.«
Ich streckte mich auf dem Lager aus und lauschte auf das Plätschern des Sees.
»Ich werde die beste Wanife werden, die es gibt. Und dann hole ich ihn
Weitere Kostenlose Bücher