Die Wanifen
es. Sie haben versucht, mir zu erklären, wo ich sie finden kann. Erlenholz, Pilz, Wasserfall, Knabenkraut … An was für einem Ort findet man das alles?«
Rainelf runzelte die Stirn.
»Du solltest dich nicht an irgendein Hirngespinst klammern, Ainwa. Ich kenne jeden Winkel dieses Landes und habe nie …« Er hielt inne und ließ seinen Blick prüfend über meine Miene gleiten. Was immer er sah, es ließ seinen Gesichtsausdruck mit einem Mal weicher wirken. »Es gibt viele Orte, an denen das alles wächst.«
»Aber nicht sehr viele Wasserfälle«, erwiderte ich. »Der einzige, den ich kenne, ist der Weytafall hinter der Klamm. Vor zwei Jahren bin ich einmal dort gewesen.«
»Hast du sie damals getroffen?«, fragte Rainelf mit einem Anflug von Spott.
»Nein, aber damals war es Nacht und ich habe nach etwas anderem gesucht.«
Rainelf griff seinen Lärchenstab und blickte sich um. Die Sonne ging gerade auf und warf ihre ersten, zart wärmenden Strahlen auf seine Haut. Sie unterstrichen die rotbraune Farbe seines Haars.
»Dann wünsche ich dir viel Glück, Ainwa. Du wirst es brauchen.«
»Und du? Gehst du zurück zu den Abira?«
Rainelfs Brauen zogen sich leicht zusammen.
»Wieso sollte ich das?«
»Sie sind dein Volk …«
Rainelfs Miene verhärtete sich wieder.
»Ich habe mein Volk vor sehr langer Zeit verlassen. Dort erinnert sich niemand mehr an mich.«
Er tat mir leid. Ob seine Leute ihn wohl weggejagt hatten, als sie herausfanden, was er war? Wahrscheinlich hatte er eine ähnliche Jugend hinter sich wie ich. Von den meisten gemieden, von manchen sogar gefürchtet … »Ich glaube, dich zu vergessen, ist nicht so leicht, wie du glaubst«, murmelte ich.
Rainelf lächelte. »Vieles spricht dafür, dass du nicht lang überleben wirst, Ainwa. Überrasch mich. Bitte.«
Jetzt musste ich grinsen. Rainelfs direkte Art war bestimmt nicht jedermanns Sache, aber mir gefiel sie.
»Eines noch: Der Streuner, den du getötet hast. Eure Begegnung war kein Zufall. Jemand hat ihn hierher geschickt, ins Seenland.«
Ich schüttelte verwirrt den Kopf.
»Um was zu finden?«
Rainelf zuckte mit den Schultern.
»Das konnte er mir nicht mehr erzählen, nachdem du mit ihm fertig warst, aber ich dachte, ich sollte dich warnen.«
Er lächelte mir kurz zu und verschwand mit ein paar eleganten Sprüngen im hohen Ufergras, als wäre er ein Hirsch auf der Flucht vor den Speeren der Ata.
Für einen winzigen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, ihm zu folgen. Selbst wenn die Urukus wirklich existierten, glaubte ich, von Rainelf mehr lernen zu können als von ihnen. Auf gewisse Weise teilte er mein Schicksal. Wir waren beide Wanifen, die nicht mehr nach Hause zurückkehren konnten, aber im Gegensatz zu mir wusste er, wie man allein überlebte.
Allerdings hatte ich eines über Rainelf gelernt. Man konnte ihm nicht folgen, wenn er es nicht wollte. Es war ja schließlich schon schwer genug, wenn er es zuließ.
Ich schlug also einen anderen Weg ein, den Weg zur Weytaklamm, den ich vor zwei Jahren schon einmal gegangen war, aus einem ganz ähnlichen Grund – um Gorman zu retten.
Kapitel 7
Die Klamm – Zwei Sommer vor dem Blutmond …
A inwa hatte sich verlaufen. Es war Nacht, und obwohl sie die Besonnenheit besessen hatte, ein Feuer zu entzünden und sich eine Fackel anzufertigen, nachdem die Atajäger die Verfolgung aufgegeben hatten, wusste sie nicht mehr, in welche Richtung sie gehen sollte.
Einige Stunden lang hatte sie sich bergauf geschleppt. Ihr Verstand riet ihr umzukehren, aber selbst wenn sie den Tod ihres Bruders akzeptiert hätte, hätte sie den Weg zurück nach Ataheim nicht mehr gefunden.
Keuchend irrte sie zwischen den alten Tannen umher. Das flackernde Licht ihrer Fackel schien die Dunkelheit nicht zu vertreiben, sondern erzeugte nur beängstigende Schatten, die wie Dämonen über das Dickicht huschten.
Je schneller sie Gorman fand, desto besser. Nachts allein durch den Wald zu irren, war keine besonders gute Idee …
Plötzlich hörte Ainwa seltsame Geräusche im Dickicht, das Knacken von Zweigen, das Tappen von Pfoten, Hecheln …
»Bitte nicht«, flüsterte sie und hob ihre Fackel etwas höher.
In der Finsternis vor ihr blitzten gespenstische Augenpaare auf.
Sie suchte hastig nach einem Stein und schleuderte ihn brüllend, ohne ihr Ziel genau ausmachen zu können. Für einen Moment verschwanden die Augenpaare aus ihrem Blickfeld, nur um gleich darauf wieder aufzutauchen.
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