Die Wanifen
und teilweise blutgetränkt. Sie sah auf das Dorf herab, als würde sie es nicht sehen.
»Was ist das?«, flüsterte Galsinger ungläubig. »Was trägt sie da über den Schultern?«
Alfanger stockte für einen Moment der Atem.
»Bei Ata …«
Eine massige Gestalt, in Felle und Leder gehüllt, lag auf Ainwas schmalen Schultern. Obwohl die Gestalt deutlich schwerer sein musste als sie, stand Ainwa so aufrecht da, als spürte sie das zusätzliche Gewicht nicht.
Ein blutüberströmter Arm baumelte lose im Wind.
»Gorman«, brüllte Galsinger.
Ainwa hob den Kopf. Für einen Augenblick spiegelte sich Verwirrung in ihrem Blick. Ihre Gestalt wankte leicht. Ein röchelnder Laut kam über ihre aufgesprungenen Lippen.
Langsam, dann immer schneller wie ein umstürzender Baum, kippte sie zur Seite und wurde unter Gormans Körper begraben.
»Helft ihnen«, rief Galsinger, und stürmte auf den Waldrand zu.
Sein Befehl war überflüssig. Das halbe Dorf war bereits auf den Beinen und lief den Hang hinauf. Alfangers Blick wanderte zum Himmel. Nicht eine Wolke war mehr zu sehen.
Am nächsten Tag fühlte ich mich so erschlagen, dass es mir schwerfiel, von meinem Felllager aufzustehen, und vermutlich hätte ich wohl auch noch bis weit in den Nachmittag hinein geschlafen, wenn Kauket nicht gewesen wäre. Wie schon tags zuvor saß er mir im Schneidersitz gegenüber und starrte mich an – eine Tatsache, die Weiterschlafen für mich unmöglich machte.
Kauket wartete geduldig, bis ich mich wieder einigermaßen in der Realität zurechtfand.
»Bist du bereit?«
Ich nickte. Kauket erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und verließ die Hütte. Ich folgte ihm, deutlich weniger schwungvoll. In Wahrheit fühlte ich mich alles andere als bereit, noch einmal eine ähnliche Tortur wie am Tag davor durchzustehen. Während ich ins Freie trat, drängte die kühle Morgenluft meine Schläfrigkeit etwas zurück. Mein Atem bildete Wölkchen, als ich gähnte.
Ich suchte den Waldrand nach dem zotteligen Percht ab.
»Vergiss diesen Geist fürs Erste, Ainwa.« Kauket konnte offensichtlich meine Gedanken lesen.
»Und wenn er zurückkommt?«
»Das wird er nicht, glaub mir.«
»Hast du ihn gerufen?«, fragte ich mit einem Mal misstrauisch.
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ainwa, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich habe mich gestern von meinem Ärger über dein Verhalten dazu verleiten lassen, dich in eine Situation zu bringen, der du noch nicht gewachsen bist.«
Ich sah ihn verwirrt an.
»Heute fangen wir neu an. Du wirst erkennen, was für ein Geschenk es ist, eine Wanife zu sein.«
»Warum entschuldigst du dich, wenn du nichts mit diesem Geist zu tun hattest?«
»Weil ich dich zu ihm geschickt habe.«
»Zu ihm … geschickt?«
»Komm mit. Ich werde dir etwas zeigen, das dir gefallen wird.«
Kauket führte mich wieder zu dem Ort, an dem ich gestern meine Aufgabe begonnen hatte, die Lichtung im Wald, die von dem Bächlein in zwei Teile geteilt wurde. Er breitete die Arme aus und sog entspannt Luft ein.
»Dieser Ort … Sag mir, wie du dich hier fühlst.«
Ich blickte mich verstohlen um.
Die Sonne schien durch das Blätterdach und beleuchtete ein paar moosbewachsene Felsen. Das Murmeln des kleinen Baches erinnerte mich an das beruhigende Plätschern des großen Sees unter Alfangers Hütte.
»Es gefällt mir hier.«
»Das überrascht mich nicht. Dieser Ort ist ein Kraftplatz. Kraftplätze haben große Bedeutung für uns Wanifen. Unsere Fähigkeiten sind hier viel stärker ausgeprägt, deshalb fühlen wir uns unbewusst von ihnen angezogen.«
»Der Ort, an dem ich gegen den Streuner gekämpft habe, war auch ein Kraftplatz. Rainelf hat es mir gesagt.«
»Der fremde Wanife?«, fragte Kauket und musterte mich forschend.
Ich nickte und wartete darauf, dass er mir Fragen über Rainelf stellte, aber was immer er auch dachte, er behielt es für sich.
»Er hatte recht. Dieser Ort ist ein sehr starker Kraftplatz und war früher sehr beliebt bei den Wanifen der Ata. Erinnerst du dich auch an den Eingang zur Höhle, den Wasserfall? Du hast dort Knabenkraut zum Blühen gebracht und Zunderschwämme aus einem toten Baum wachsen lassen.« Der Ort, an dem ich Gorman verletzt gefunden hatte, war also auch ein Kraftplatz.
»Unter normalen Umständen wärst du nicht fähig gewesen, das Wachstum von Pflanzen oder Pilzen zu beeinflussen, dafür fehlt dir noch die Übung, aber an einem Kraftplatz ist es viel einfacher.«
»So
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