Die Wanifen
einfach nun auch wieder nicht«, brummte ich.
Ich gab es nicht offen zu, aber ich war stolz, das Urukurätsel gelöst zu haben.
Kauket setzte sich auf einen verwitterten Felsen und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen.
Ich ließ mich nicht zweimal bitten, schließlich taten mir von der Rennerei gestern noch immer die Beine weh.
»Du hast wahrscheinlich bemerkt, dass dein Stab dir dabei eine große Hilfe war. Ein Wanife wählt seinen Stab, nachdem sein Blut zum Leben erwacht ist, und behält ihn danach meist bis zu seinem Tod. Er hilft uns, unsere Kräfte auf eine bestimmte Aufgabe zu fokussieren, er bündelt sie.«
Ich betrachtete den rötlichen Holzstab. Seine Oberfläche war glatt und er lag angenehm in der Hand.
»Ich habe ihn nicht ausgewählt. Mein Bein war verletzt. Ich habe irgendetwas aufgehoben, um mich abzustützen.«
»Umso besser«, behauptete Kauket. »Du hast rein instinktiv gehandelt. Ich bin überzeugt, dieser Stab wird dir gute Dienste leisten. Würdest du ihn mir kurz leihen?«
Ich reichte ihm den Stab und beobachtete, wie er mit der Hand über sein gewundenes Holz strich.
»Ah, Eibe.«
»Eibe?«, wiederholte ich überrascht. »Mein Bogen ist aus Eibenholz.«
Eiben gehörten zu den giftigsten Pflanzen im Seenland. Die Tatsache, dass ich gerade diesen Stab ausgewählt hatte, beunruhigte mich ein wenig.
»Ich glaube, ein Eibenstab passt sehr gut zu dir, Ainwa.«
»Vielen Dank«, murrte ich.
Kauket gab mir den Stab zurück und schritt zu einer alten Eibe hinüber, die am Rand des Kraftplatzes wuchs.
»Sieh dir an, was du dir ausgesucht hast«, rief er und winkte mich heran.
Normalerweise gefielen mir Eiben. Ihre Stämme wuchsen nicht so kerzengerade wie die einer Fichte, sondern schnörklig, mit weit ausladenden Ästen. Diese hier sah nicht besonders gesund aus, eher als wäre sie schon am Verrotten.
»Was siehst du?«, fragte Kauket.
»Der Baum stirbt.«
»Sieh genauer hin.«
Die Eibe war so alt, ihr Inneres hatte sich bereits aufgelöst, und nur der äußere Ring des Stamms war noch vorhanden. Aber aus seiner Mitte, in der sich einst sein Herz befunden hatte, wuchs ein hüfthohes Bäumchen, das seine zarten Zweige der Sonne entgegenreckte.
»Kaum ein Baum ist so widerstandsfähig wie eine Eibe«, erklärte Kauket. »Durch den Tod werden sie wiedergeboren. Manche behaupten, eine Eibe würde niemals wirklich sterben.«
»Hm.«
Ich betrachtete meinen Stab. Kaukets Geschichte hatte ihn mir wesentlich sympathischer gemacht.
»Sind wir ohne unsere Stäbe machtlos?«
»Nein, aber es wird dir schwerfallen, deine Fähigkeiten gezielt einzusetzen.«
»Was für Fähigkeiten besitzt ein Wanife?«
Kauket seufzte und rieb sich die Stirn.
»Unsere Fähigkeiten, Ainwa, sind so unterschiedlich wie die Zeichen auf unseren Handgelenken. Grundsätzlich unterscheiden wir vier Disziplinen, die jeder Wanife bis zu einem gewissen Grad beherrscht: Das Wachsen … Das Heilen … Das Weltenwandeln … und das Geisterringen. Jeder dieser Bereiche ist sehr facettenreich und bringt seine eigenen Meister hervor.«
»Worin bist du am besten?«, fragte ich neugierig.
Kauket lächelte.
»In allen Bereichen können wir uns durch Übung verbessern. Manche Begabungen werden uns aber bereits in die Wiege gelegt.«
Er wies auf das Zeichen auf seinem Handgelenk.
»Das Wachsen fiel mir immer am leichtesten. Ich bin ein guter Geisterringer, ein passabler Wandler, und leider – wie ich gestehen muss, ein miserabler Heiler.«
»Was wurde mir in die Wiege gelegt?«, fragte ich aufgeregt und hob mein Handgelenk.
Kaukets Blick saugte sich an den beiden schwarzen Zeichen fest.
»Wir werden sehen«, murmelte er.
Mich beschlich das Gefühl, er wusste genau, was meine Zeichen bedeuteten, und dass es ihm ganz und gar nicht gefiel.
»Das, was ich am Wasserfall getan habe, war Wachsen, nehme ich an?«
»Ja«, sagte er. »Wachsen in seiner einfachsten Form. Damit werden wir uns heute beschäftigen und sehen, wie du dich dabei anstellst. Das Wachsen ist eine sehr elementare Fähigkeit. Manche Wanifen betrachten es als minderwertig, aber sie sind Narren, das zu glauben. Ein Wanife, der ein Meister des Wachsens ist, ist ein Segen für sein Volk. Er kann ihnen über magere Zeiten wie eine Dürre hinweghelfen und selbst lange auf sich allein gestellt im Wald überleben. Bevor wir anfangen, musst du verstehen, dass auch das Wachsen gewissen unabänderlichen Gesetzen unterworfen ist: Wir können nichts wachsen
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