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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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war mehr als ein Monat vergangen, seit ich den Weg ins Wanifenhaus gefunden hatte.
    Jeden Tag vor dem Einschlafen sehnte ich mir das Erscheinen meines Seelengeists herbei, aber wo immer er war, er blieb stumm und offenbarte sich nicht. Stattdessen tauchte das fremde Mädchen immer öfter in meinen Träumen auf und immer war ihr Erscheinen begleitet von einem fast animalischen Verlangen, das mir große Angst machte.
    In diesen Träumen beobachtete ich sie meistens aus der Ferne. Ich sah, wie die Strahlen der Morgensonne auf ihr dichtes, dunkelrotes Haar und ihre weiße Haut fielen. Ich
    belauerte sie, wenn die Menschen aus dem fremden Dorf mit den verschiedensten Gebrechen zu ihr kamen und sie sie heilte und ich beobachtete sie, wenn ihr Blick nervös zum Waldrand huschte, wo ich mich dann und wann für einen Moment von ihr sehen ließ. Immer, wenn sie mich betrachtete, nahm ihre Miene einen ängstlichen Ausdruck an, manchmal begleitet von einem leichten Erröten.
    Wenn ich aus diesen Träumen erwachte, war ich schweißgebadet, und brauchte eine Weile, um mich wieder in der Wirklichkeit zurechtzufinden.
    Kauket gegenüber erwähnte ich das Mädchen nicht. Nur Nephtys erzählte ich einmal von ihr, als wir gemeinsam Felle gerbten.
    »Das Mädchen scheint eine Wanife zu sein«, meinte sie. »Vielleicht wünschst du dir, eines Tages so zu werden wie sie?«
    »Kann sein.« Über die Art des Verlangens, das ich in diesen Träumen verspürte, konnte ich auch mit Nephtys nicht reden.
    »Findest du es nicht merkwürdig, dass ich immer dasselbe Mädchen in meinen Träumen sehe?«
    Nephtys runzelte leicht die Stirn.
    »Du bist eine Wanife, Ainwa. Es ist möglich, dass für dich etwas andere Regeln gelten. Vielleicht solltest du mit Kauket …«
    »Nein«, unterbrach ich sie bestimmt. »Darüber könnte ich nicht mit ihm sprechen.«
    Nephtys schien etwas erwidern zu wollen, ließ es dann aber. Ich behielt meine Träume fortan für mich.

Kapitel 10
    Wandeln
     
     
     
    A m darauffolgenden Tag ging Kauket nicht mit mir zum Kraftplatz. Aus irgendeinem Grund wollte er mich zuerst im Dorf unterrichten und Nephtys war feinfühlig genug, loszuziehen, um die Fuchsfallen im Tal zu kontrollieren.
    Ich folgte Kauket ans Seeufer, an dem er eine Stelle aussuchte, wo der Boden nicht von Kies, sondern von weichem Ufersand bedeckt wurde.
    »Setz dich und sieh zu«, kommandierte er.
    Ich tat, wie mir geheißen.
    Mit seinem Stab malte er mit raschen Strichen ein Zeichen in den Sand.
    »Bartengryf.«
    Ich versuchte, mir das Zeichen genau einzuprägen. Auch dieses erinnerte mich ein bisschen an einen Vogel. Die Silhouette sah allerdings kantiger aus und wirkte insgesamt kompakter als die meines Seelengeists.
    »Mächtiger Geist, lebt hier im Seenland. Beeinflusst die Winde und das Wetter.«
    Er suchte meinen Blick. »Gemerkt?«
    Ich nickte eifrig.
    Mit einer schnellen Bewegung seines Fußes verwischte er das Zeichen wieder und malte ein neues in den Sand. Diesmal erinnerte es mich von der Form her ein bisschen an einen Salamander, der unter dem Moos hervorkroch.
    »Der Tatzelwurm. Bewohnt Höhlen. Er ist blind und sehr weise, aber auch sehr unberechenbar. Er kann Dinge erspüren, die noch nicht passiert sind. Seinem Wanifen verleiht er untrügliche Intuition.«
    Kauket warf mir erneut einen fragenden Blick zu. Als ich nickte, verwischte er das Zeichen des Tatzelwurms wieder. Jetzt malte er ein schmales, wellenförmiges Zeichen in den Sand, eine laufende Gestalt mit wehendem Haar. »Das Salkweib. Salkweiber sind sehr scheu. Sie beschützen junge Liebende und sind im Grunde gutherzige Kreaturen. Als Mann muss man sich allerdings vor ihnen in Acht nehmen. Bei Vollmond neigen sie dazu …« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Dir werden sie jedenfalls nichts tun.«
    Ich glaubte, einen Hauch von Schamröte über Kaukets Gesicht huschen zu sehen.
    »Es gibt andere Geister, auf die du eher achten musst«, sagte er schnell, verwischte das Zeichen und hatte schon das nächste in den Sand gemalt. Es war sehr spitz und scharfkantig, mit einer wellenförmigen Linie am Ende.
    »Ein wunderschöner Geist. Das Einhorn. Ein Geist des Frühlings. Es verleiht große Heilkräfte und kann Freude in Menschenherzen säen. Wanifen mit diesem Seelengeist sind oft selbst sehr schön.«
    »Das wäre ein großartiger Seelengeist.« Ich seufzte.
    »Allerdings«, sagte Kauket. »Aber auch sehr selten.«
    »Ist jeder Geist einzigartig?«, fragte ich.
    »Ja und

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