Die Wassermuehle
senkte sich der mit Narzissen geschmückte Sarg in den grünen Schlund.
Elisabeth hatte Juliette zugehört, war ihr nicht mit kindischen Ausflüchten gekommen, weil sie es nicht ertrug, einen geliebten Menschen alt und schwach werden zu sehen. Ausgerechnet das Prinzesschen! Die Frau, die Hedi als Kind gehasst hatte, weil ihr Name sie an das Lieblingsbuch ihrer Mutter erinnerte. Ach, was werden sie nur alle sagen, mein liebes Großmütterlein, wenn sie hören, was mit der armen Bettelprinzess geschehen ist.
Der Pfarrer nickte Hedi zu. Ihre Hände fingen an zu zittern. Sie wusste, dass sie es nicht tun konnte. Jetzt genausowenig wie damals am Grab ihrer Mutter. Klaus sah sie an, aber sie schüttelte den Kopf.
Marianne Klammbiel trug ein Hochzeitskleid und eine Schleife im Haar. Ihr rechter Schuh war vom Fuß gerutscht, die Nägel waren violett gefärbt. Fast berührten ihre Füße den Boden, aber Hedi musste auf den Stuhl steigen, um das Seil durchzuschneiden. Sie setzte sich auf die Dielen und schaute die Frau an, die sie geboren hatte. Lange. Las den Zettel, der um ihren Hals hing. Wieder und immer wieder. Und spürte das Kind in ihrem Bauch.
Klaus trat vor und leerte das erste Schäufelchen Erde auf den Sarg.
Ein Körper, der auf Holz klatscht. Steif und kalt. Augen, die ins Leere starren. Anklagen. Der blaue Mund, ein stummer Schrei. Warum hast du mich allein gelassen?
Hedi schlug die Hände vors Gesicht und lief davon.
„Lassen Sie sie“, sagte Elisabeth Stöcker leise, als Klaus ihr folgen wollte.
Auf der Streuobstwiese hinter der Scheune blühten wilde Tulpen und Osterglocken. Die alten Gewächshäuser glänzten im Sonnenlicht, und in Juliettes Garten war schon das Grün der Möhren zu sehen, die sie so gern noch geerntet hätte. In den kahlen Ästen der Eiche zwitscherten Spatzen; auf dem Hof gackerten die Hühner. Alles war wie immer, und doch war nichts mehr, wie es war. Ein Mühlstein und ein Menschenherz / Wird stets herumgetrieben. / Wo beides nichts zu reiben hat, / Wird beides selbst zerrieben.
Weinend schloss Hedi die verwitterte Haustür auf. Im Flur war es still und kalt. Auf dem Sofa im Wohnzimmer lag Juliettes rote Wolldecke und auf dem Teppich eine ihrer silbernen Haarnadeln. Hedi hob sie auf, und ihr Blick fiel auf den hellen Fleck über dem Kamin, wo die gerahmte Fotografie gehangen hatte.
„Sitz still, Hedilein! Sonst wird das Bild verwackelt.“
„Warum gehst du denn rückwärts, Tante Juliette?“
„Meine hübsche Mühle wollen wir doch mit aufs Foto nehmen, oder?“
„Ja, die ist viel hübscher als ich! Mami sagt, wenn ich recht demütig und bescheiden bin, kommt ein reicher, wunderschöner Prinz und heiratet mich. Aber wenn ich doch den reichen, wunderschönen Prinz gar nicht heiraten will, Tante Juliette?“
„Deine Mutter redet Unsinn, Kind. Und jetzt sitz still!“
* * *
Drei Wochen nach Juliettes Tod wurde Hedi beim Nachhausekommen wieder von wummernden Bässen im Treppenhaus begrüßt. Im Flur telefonierte ihre Tochter, im Wohnzimmer aß ihr Sohn Chips und sah fern, und natürlich hatten die beiden vergessen, den Frühstückstisch abzuräumen. Klaus holte die versäumten Besuche bei Ralf nach, war im Dienst oder für Tachnon unterwegs. Vivienne flog mit ihrem neuen Freund zu einer Modenschau nach Mailand und anschließend für zwei Wochen in Urlaub.
An einem Dienstagnachmittag Anfang Mai fuhr Hedi zur Testamentseröffnung nach Darmstadt. Sie hatte gehofft, dass Klaus mitkommen würde, aber er erhielt kein Dienstfrei. Zumindest behauptete er das.
Vor dem Amtszimmer des Notars standen drei altmodische Holzstühle. Auf einem davon saß das Prinzesschen. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und stand auf, als Hedi kam. „Ich weiß nicht recht, warum ich überhaupt hier bin“, sagte sie verlegen nach der Begrüßung.
„Sie haben viel für meine Tante getan.“
Sie knetete ihre Hände. „Dürfte ich Sie etwas fragen, Frau Winterfeldt?“
Hedi nickte.
„Werden Sie die Mühle verkaufen?“
„Noch gehört sie mir nicht.“
Elisabeth Stöckers Wangen färbten sich rot. „Entschuldigen Sie bitte.“
„Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie sich um das Haus und die Tiere kümmern“, sagte Hedi.
„Das tue ich doch gern. Schließlich war Ihre Tante ...“ Sie stockte. „Wir hatten viele Gemeinsamkeiten.“
„Es tut mir leid, dass ich Sie an Juliettes Beerdigung mit der ganzen Arbeit allein gelassen habe.“
„Ich hatte ihr versprochen, mich um die
Weitere Kostenlose Bücher