Die Wassermuehle
blutrünstig aussehender, halbnackter Sioux kam mit einem Tomahawk auf sie zu. Schweißgebadet schreckte sie hoch. Die Sonne schien direkt aufs Kopfkissen; die Trommeln schlugen immer noch. Hedi sah zur Uhr: erst Viertel nach zehn. Wütend sprang sie aus dem Bett und lief nach nebenan.
„Himmelherrgott! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du diesen Krach abstellen sollst? Ich hatte Nachtdienst!“
Dominique fummelte am Lautstärkeregler ihrer Stereoanlage. „Äh ... ’tschuldigung, Mama. Hatte ich ganz vergessen.“
„Wo kommst du eigentlich jetzt schon her?“
„Englisch und Mathe sind ausgefallen.“
Kopfschüttelnd verließ Hedi das Zimmer. Nach dem Duschen fühlte sie sich besser. Sie räumte Küche und Wohnzimmer auf, warf einen Blick in die Zeitung und aß Dominiques Schulbrot. Dann fuhr sie nach Frankfurt.
K APITEL 17
D ie Sonne schien vom wolkenlos blauen Himmel, und in dem kleinen Garten vor der Villa, in der Vivienne wohnte, übertönte das Vogelgezwitscher fast den Verkehrslärm. Vivienne duftete nach Chanel No. 5 und trug ein raffiniert geschnittenes gelbes Top zu einem kniefreien Rock. „Du solltest wirklich ein bisschen mehr in deine Garderobe investieren“, sagte sie kopfschüttelnd, als sie zu Hedi in den Wagen stieg.
Hedi fädelte sich in den Verkehr ein. „Du hast keine Ahnung, was eine gute Jeans und ein vernünftiges T-Shirt kosten.“
„Ein Grund weniger, sich gleich zwanzig davon in den Kleiderschrank zu hängen, oder?“
„Es sind nur fünfzehn“, sagte Hedi lächelnd und strich ihren Pony aus der Stirn. Von Coiffeur Pierres vorweihnachtlichem Meisterwerk war nicht viel geblieben. Hedi war froh darüber, dass ihr Haar wieder lang genug war, um es zusammenstecken zu können, wenn es nicht in Form war.
Als sie auf der Autobahn waren, begann Vivienne, von ihrem Urlaub zu schwärmen. „Zwei Wochen Südsee. Nichts als Sand, Meer und Himmel, stell dir vor! Herrlich einsam und doch mit allem Komfort.“
„Mit allem Komfort? Dann kann’s so einsam nicht gewesen sein“, bemerkte Hedi.
Vivienne lachte. „Reine Definitionssache.“ Sie schilderte in allen Einzelheiten, was sie mit ihrem Liebsten während der vierzehn Tage Inseleinsamkeit angestellt hatte, und Hedi ließ sich von ihrer guten Laune anstecken. Sie öffnete das Seitenfenster und trällerte ein Lied.
„Muss das sein?“, fragte Vivienne stirnrunzelnd.
Hedi schloss das Fenster wieder.
„Ich meinte deinen Gesang.“
Hedi grinste. „Nicht schön, aber laut, pflegte mein Großvater zu sagen.“ Sie schaltete das Radio ein. Kurz hinter Hassbach sahen sie Elisabeth Stöcker auf dem Fahrrad vor sich.
„Da hatten wir wohl den gleichen Gedanken, was?“, sagte sie, als Hedi neben ihr anhielt. Sie nahm einen Schlüssel aus ihrer Kitteltasche und gab ihn ihr. „Wenn Sie so nett wären, die Hühner und Kaninchen zu füttern? Dann bräuchte ich heute Abend nicht mehr rauszufahren. Den Schlüssel können Sie mir auf der Rückfahrt einfach in den Briefkasten werfen. Sie wissen, wo ich wohne?“
Hedi nickte.
„War das die doofe Bäuerin aus dem verkackten Kuhkaff, mit der deine Tante Weihnachten gefeiert hat?“, fragte Vivienne, als sie weiterfuhren.
Hedi wurde rot. „Äh ... ja. Eigentlich ist sie ganz in Ordnung.“
Auf dem Schotterweg zur Eichmühle hielt sich Vivienne jammernd am Haltegriff über der Tür fest, während Hedi von einem Schlagloch ins nächste rumpelte. Im Eichenwäldchen fing der Opel an zu röhren. Hedi sah in den Rückspiegel. „Ach, du je.“
„Was ist?“, fragte Vivienne.
„Ich glaube, wir haben gerade den Auspuff verloren.“
„Solange es nicht der Motor ist.“
„Klaus wird sauer sein.“
Vivienne verzog das Gesicht. „Kannst du nicht einmal an etwas anderes denken?“
Sie verließen den Wald, und in der Senke vor ihnen tauchte die Eichmühle auf. Die Obstbäume hinter der Scheune waren ein weißrosa Blütenmeer. Der Mühlteich schimmerte durch hellgrüne Birken und lilafarbene Fliederbüsche. An der Brücke blühten Weißdorn und Sumpfdotterblumen, und die Wiese an der Einfahrt war mit Gänseblümchen übersät.
„Das ist ja fantastisch!“, rief Vivienne. Lächelnd fuhr Hedi in den Hof. Sie stiegen aus, und Vivienne schaute sich staunend um. An den Wänden des Mühlhauses trieben Knöterich und wilder Wein aus, in dem Steintrog neben der Haustür blühten rote Darwintulpen. Die Krone der alten Eiche überragte das moosbewachsene Schindeldach; zwischen Haus und Baum
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