Die Wassermuehle
„Lebenskunst besteht darin, die eigene Natur mit der eigenen Arbeit in Einklang zu bringen. Luis Ponce de León.“
Hedi verzichtete darauf zu fragen, wer Luis Ponce de León war. Sie startete und fuhr los.
„Manche Dinge muss man einfach tun, ohne vorher groß darüber nachzudenken“, sagte Vivienne.
Der Opel fing plötzlich an zu ruckeln. Vor der Brücke blieb er stehen.
„So ein Mist!“, schimpfte Hedi und stieg aus. Sie öffnete die Motorhaube und betrachtete die ölverschmierten Kabel rings um die Batterie.
„Kennst du dich denn mit so was aus?“, fragte Vivienne.
„Ein bisschen.“ Hedi prüfte den Ölstand, zog an einem grünen Kabel, drehte an einem schwarzen und warf die Motorhaube mit einem Schwung wieder zu. Soweit sie sich erinnerte, hatte Klaus das beim letzten Mal genauso gemacht. Es nützte nichts. Ihre Startversuche waren vergebens. Sie zuckte mit den Schultern. „Bis Hassbach sind’s durch den Wald zum Glück nur drei Kilometer.“
„Ich habe nicht die richtigen Schuhe an“, sagte Vivienne.
„Du bist bloß zu faul zum Laufen.“
Vivienne kramte ihr Handy hervor. „Wir sollten eine Werkstatt anrufen.“
„Keine Chance. Hier im Tal gibt’s kein Netz.“
„Und das Uralt-Gerät in der Diele?“
„Du meinst Juliettes Telefon? Das ist längst abgemeldet.“
„Wir könnten versuchen, das Vehikel anzuwerfen, das in der Scheune steht.“
Hedi lachte. „Das Ding hat nur noch Museumswert. Ich glaube, da ist nicht mal mehr Benzin im Tank.“
Vivienne stieg aus. „Also gut. Dann übernachten wir eben hier. Und wenn deine Bäuerin morgen früh zum Hühnerfüttern kommt ...“
„Das kann ich nicht machen, Vivienne! Klaus und die Kinder ...“
„Verdammt noch mal! Sie werden eine Nacht ohne dich auskommen!“
„Ich wusste gar nicht, dass du fluchen kannst.“
„Ich kann noch viel mehr. Verlass dich drauf.“
Lachend gingen sie zum Haus zurück. Im Wohnzimmer war es kühl und feucht. Weil der Strom abgestellt war, funktionierte auch die Heizung nicht, aber Hedi hatte ohnehin keine Ahnung, wie sie das altmodische Ungetüm hätte in Gang bringen sollen.
„Lass uns nachsehen, ob noch Brennholz in der Scheune liegt“, sagte sie. Sie hatten Glück. Hedi machte Feuer im Kamin, während Vivienne nach Kerzen suchte.
Stolz präsentierte sie einen Kasten mit rosa Stumpenkerzen. „Bleibt die spannende Frage: Was gibt’s zum Dinner?“
Hedi zündete eine Kerze an. „Vielleicht ist noch was im Vorratskeller. Außerdem wohnen draußen ein paar freundliche Hühner.“
Vivienne wurde blass. „Du willst doch nicht etwa ein Huhn köpfen?“
Hedi grinste. „Ich dachte eher an die Eier.“
Im Keller fanden sie jede Menge eingeweckte Kirschen, drei Flaschen Spätburgunder und zwei Gläser Stachelbeermarmelade vom vorvergangenen Jahr. Im Hühnerstall sammelten sie sechs Eier aus den Nestern und konnten gerade noch rechtzeitig die Tür verriegeln, bevor der wütende Hahn zum Angriff überging.
Hedi zündete Juliettes alten Gasherd an, und Vivienne brutzelte pfeifend Omelette à la confiture , die sie mit allem würzte, was im Küchenschrank stand. Zum Hauptgang tranken sie eine Flasche Burgunder, als Nachspeise aßen sie zwei Gläser Kirschen und zur besseren Verdauung leerten sie eine weitere Flasche Wein. Danach stolperten sie mit der dritten Flasche kichernd die knarrende Treppe ins Obergeschoss hinauf und machten Modenschau mit Juliettes Nachthemden, bis ihnen vor Lachen der Bauch wehtat.
Erschöpft ließ sich Hedi auf Juliettes Bett fallen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich in der Eichmühle jemals wieder Spaß haben könnte.“
Vivienne trank den letzten Schluck Wein und setzte sich neben sie. „Warum ziehst du eigentlich nicht selbst hier ein?“
Hedi rappelte sich hoch. „Aber Vivienne! Das ist ...“
„... ein schöner Gedanke, oder? Stell dir vor, wie deine Tante sich darüber freuen würde.“
„Aber Klaus und die Kinder ...“
Vivienne verzog das Gesicht. „Wenn man dich reden hört, sollte man kaum glauben, dass irgendwann so was wie Emanzipation stattgefunden hat.“
„Das hat doch damit gar nichts zu tun! Die Kinder gehen in Offenbach zur Schule, und Klaus und ich arbeiten dort.“
„Wie weit ist es von hier bis nach Darmstadt? Eine halbe Stunde? Wenn ich mich nicht täusche, gibt es auch dort Schulen, Krankenhäuser und Polizeireviere, oder?“
„So einfach, wie du dir das vorstellst, geht das alles nicht.“
„Du willst gar nicht, dass es
Weitere Kostenlose Bücher