Die Wassermuehle
wucherten armdicke Efeustränge, die unter den blauvioletten Blütentrauben eines Blauregens fast verschwanden. In der Luft lag ein feiner Duft nach Jasmin.
„Die Eiche ist über dreihundert Jahre alt“, sagte Hedi. „Irgendein Ur-Ur-Klammbiel soll sie einst als Blitzschutz gepflanzt haben.“
„Götter und Menschen, Technik und Natur haben sich verbündet, die Fron der Arbeit fällt ab; das Wasser treibt spielerisch an, was den Menschen von existenzieller Misere befreit“, sagte Vivienne versonnen.
„Na ja, ganz so spielerisch war’s wohl nicht“, entgegnete Hedi. „Das Leben eines Müllers war hart. Tante Juliette musste in ihrer Kindheit ...“
„Korn, Mühle, Mehl, Brot ... eine magische Vier. Lasset die Hände nun ruh’n, ihr mahlenden Mädchen, und schlafet lange, der Morgenhahn störe den Schlummer euch nicht.“
„Was?“
Vivienne lachte. „Aus einem Epigramm des römischen Architekten Marcus Vitruvius Pollio. Wollen wir nicht hineingehen?“
Hedi zwang sich zu einem Lächeln und gab Vivienne den Schlüssel. „Du zuerst.“
Nacheinander betraten sie den düsteren Flur. Als sie ins Wohnzimmer kamen, atmete Hedi auf. Die rote Wolldecke war verschwunden, und über dem Kamin hing ein gerahmtes Foto von Juliette.
„Ist das deine Tante?“, fragte Vivienne neugierig.
„Ja.“
„Ein ausdrucksvolles Porträt. Wer hat es fotografiert?“
„Keine Ahnung.“ Es war tatsächlich ein schönes Bild. Juliette sah so lebendig aus, dass Hedi einen Moment lang glaubte, sie zwinkerte ihr zu. Wie immer Du Dich entscheiden wirst: Meinen Segen hast Du, Kind.
„Es ist wunderschön hier“, sagte Vivienne, als sie ihren Rundgang beendet hatten. „Ich würde mir das mit dem Verkauf noch mal überlegen.“
Hedi schloss die Haustür ab. „Vielleicht finde ich ja einen netten Mieter.“
„Das eine oder andere müsste instand gesetzt werden.“
„Für Klaus wäre jeder Euro, den ich hier reinstecke, rausgeschmissenes Geld.“
„Lieber Himmel! Du hast die Mühle und das Geld geerbt und nicht dein Mann.“
„Schon. Aber wenn ...“
„Vergiss doch endlich mal deine ständigen Schons, Wenns und Abers! Das blockiert bloß Fantasie und Kreativität. Stell dir vor, was für ein herrliches Atelier aus der Scheune da drüben werden könnte!“
„Wenn das Denkmalschutzamt einverstanden ist“, wandte Hedi ein.
„Ich sehe einen lichtdurchfluteten Raum; Exorbitanz und Zeitlosigkeit, Chiffre des Unbegreiflichen, Grauen mitten im Grünen.“
„Was erzählst du da?“, fragte Hedi verwirrt.
Vivienne lächelte. „Die Mühle ist ein Urbild unserer Existenz, da uns das Leben in seiner organischen Verbindung fasslich entgegentritt. Sie ist Sehnsucht nach Heimat, Gleichnis des Doppelten: Topos der Antinomie.“
„Könntest du mir das bitte ins Deutsche übersetzen?“
„Das Schönste unter der Sonne ist, unter der Sonne zu sein, aber dann kommt die Nacht.“
„Aha.“
Vivienne strich versonnen über eine Efeuranke. „Weißt du das denn nicht? Der Mühlengrund ist ein magischer Ort, Hedi. Glück wohnt neben Verhängnis, Heiterkeit inmitten von Vergänglichkeit, Zeitlosigkeit in der Zeit, die der Zeit zum Opfer fällt. Es wäre ein Traum, hier malen zu dürfen.“
„Ich muss noch schnell die Viecher füttern.“
Vivienne setzte sich auf Juliettes Bank. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich hier warte?“
Hedi schüttelte den Kopf.
„Ich frage mich, was der Katzennapf neben den Karnickelställen zu bedeuten hat“, sagte sie, als sie nach der Fütterung mit Vivienne zum Auto ging.
„Außer einem Atelier hätte in der Scheune auch eine Töpferwerkstatt Platz“, sagte Vivienne.
Hedi seufzte. „Der nächste Kurs beginnt leider erst wieder im Herbst. Aber ich weiß gar nicht, ob ich mich überhaupt anmelden soll. So eng wie wir personell besetzt sind, könnte ich wohl nur selten hingehen.“
„Findest du nicht, dass es an der Zeit wäre, mal ein bisschen mehr an dich zu denken?“
„Als Künstlerin hast du leicht reden!“, entgegnete Hedi. „So einfach, wie du glaubst, ist das Leben aber leider nicht.“
„Papperlapapp! Das Leben ist wie ein geschicktes Zahnausziehen. Man denkt immer, das Eigentliche solle erst kommen, bis man plötzlich sieht, dass alles vorbei ist. Hat zumindest der Eiserne Kanzler behauptet.“
„Wer?“
„Onkel Bismarck.“
Hedi öffnete den Wagen. „Sag mal: Wie viele Traktate lernst du pro Tag auswendig?“
Vivienne stieg lächelnd ein.
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