Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
öffnete einen Taschenkalender und setzte sich auf seinen Schreibtisch. »Schreiben Sie sich die Nummer auf, viel nützen wird sie Ihnen nicht. Er geht nicht ans Telefon und ruft auch nicht zurück, es sei denn, er will Sie sprechen, niemals umgekehrt.«
»Vielen Dank für alles«, sagte sie, nachdem sie sich die Nummer notiert hatte.
»Stets zu Ihren Diensten.«
»Die Erfahrung habe ich bei Mounties immer gemacht. Sie sind eine sehr professionelle Truppe.«
Er nickte. »Wo wohnen Sie?«
»Im Phoenix Hotel.«
»In der Nachbarschaft.«
»Fast.«
»Sagen Sie, hätten Sie Lust, mit mir essen zu gehen, während Sie hier sind? Sie könnten mir von Ihren Fortschritten bei Robbins erzählen.«
Sie warf einen Blick auf das Foto von seinen Kindern.
»Ich bin geschieden«, sagte er.
Zwei Verehrer an einem Tag , dachte Ava, und falls sie sich nicht allzu sehr täuschte, war Jeff potenziell der Dritte im Bunde. Aus ihr unbekannten Gründen wirkte sie auf Gweilos ausgesprochen anziehend. Wenn sie sich in Hongkong mit einem Schild in der Hand an eine Straßenecke stellte, auf dem WER LÄDT MICH ZUM ESSEN EIN ? stand, würde sie weniger Aufmerksamkeit erregen.
»Gegen Essen hätte ich nichts einzuwenden, aber im Zuge unserer Ehrlichkeitsvereinbarung muss ich Ihnen sagen, dass ich lesbisch bin.«
»Ich habe wirklich nur Essen gemeint«, sagte er, aber die Röte, die seine Wangen überzog, strafte ihn Lügen.
»Wie kann ich Sie erreichen? Geben Sie mir Ihre Handynummer?«
Er reichte ihr seine Visitenkarte. Sein voller Titel lautete STELLVERTRENTENDER HANDELSATTACHÉ .
»Ich halte Sie über meine Fortschritte mit Robbins auf dem Laufenden.«
21
J eff stand in Poloshirt und Freizeithose vor dem Phoenix Hotel und schien erfreut, sie zu sehen. Ava wurde klar, dass sie auch ihm früher oder später eine Abfuhr erteilen musste.
»Ich habe Ihre SIM -Karte«, sagte er.
»Was schulde ich Ihnen?«
»Zwanzig.«
Sie gab ihm dreißig.
»Brauchen Sie mich heute noch? Gegen eins muss ich zum Flughafen. Danach bin ich frei.«
»Ich weiß noch nicht. Rufen Sie mich doch an, wenn Sie zurück sind.«
In ihrem Zimmer war es unerträglich heiß. Das Zimmermädchen hatte die Klimaanlage ausgeschaltet. Ava machte sie wieder an und stellte die Temperatur sicherheitshalber noch niedriger ein. Dann zog sie ihre Kleider aus, die nassgeschwitzt waren, obwohl der Weg vom Hochkommissariat nur drei Minuten gedauert hatte, und streifte sich ihre Joggingsachen über. Eigentlich war es zu heiß zum Laufen, aber sie musste nachdenken. Bevor sie das Hotel verließ, überprüfte sie ihre E-Mails im Business Center. Wenig überraschend hatte Seto nicht geantwortet. Aus den Touristikbroschüren auf ihrem Zimmer wusste sie, dass der Weg, der entlang der Ufermauer verlief, mit Gras überwachsen war, was die Gelenke schonte. Die Meeresbrise würde die Hitze hoffentlich erträglicher machen.
Die Ufermauer von Georgetown war im neunzehnten Jahrhundert von den ursprünglichen Kolonialherren, den Niederländern, erbaut worden, bevor die Briten sie verdrängt hatten. Georgetown lag wie der Großteil der nördlichen Küstenlinie unter dem Meeresspiegel, und die Niederländer, die es meisterhaft verstanden, das Meer in Schach zu halten, hatten ein beeindruckendes steinernes Bollwerk von zwei Metern Breite und einem Meter Höhe errichtet. Sie joggte auf den Atlantik zu. Da fast Ebbe war, erstreckte sich zwischen der Mauer und dem Ozean ein breiter Strandstreifen. Zu ihrer Rechten befanden sich die Botschaften und Konsulate. Dort herrschte kaum Verkehr, und der Fußweg war praktisch menschenleer. Man konnte kilometerweit sehen. Am Strand warf eine Frau einen Stock für ihren Hund, in einiger Entfernung saßen zwei Gestalten mit einigem Abstand zueinander auf der Ufermauer.
Ava musste etwa einen Kilometer laufen, bevor sie die beiden, zwei indische Männer, genauer ausmachen konnte. Sie sah, dass die Männer sie bemerkt hatten, und überlegte, ob sie umkehren sollte, tat es jedoch als albern ab. Es war mitten am Tag, und sie befanden sich auf einer freien Fläche. Als sie bis auf fünf Meter an den ersten Mann herangekommen war, bemerkte sie, wie sich sein Körper anspannte. Ihre Instinkte schlugen Alarm. Sie lief schneller. Da sprang der zweite Mann von der Mauer und stellte sich ihr in den Weg. Sie war in eine Falle getappt. Der eine war zwar klein, wog aber mindestens neunzig Kilo. Er trug zerlumpte Shorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift TRINK COORS .
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