Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Der andere war etwas größer, wenn auch nicht viel schlanker, mit schmutziger Jeans sowie Unterhemd bekleidet, das Brust und Achseln freiließ. Er hatte nur noch ein Auge, und die Art, wie er sie damit fixierte, ließ auf keine guten Absichten schließen. Zur Mauer gewandt blieb sie stehen, sodass sie beide gut im Blick hatte.
»Wir könnens auf die sanfte oder auf die harte Tour machen – deine Wahl«, sagte der Mann links von ihr, in dessen rechter Hand ein Messer aufblitzte.
Ava sparte sich eine Antwort, die am Ergebnis ohnehin nichts geändert hätte. Der andere schien unbewaffnet zu sein, deshalb beschloss sie, sich zuerst auf denjenigen mit dem Messer zu konzentrieren. Langsam kamen sie auf Ava zu, wobei sie den gleichen Abstand zu wahren versuchten. Sie bewegte sich nach links auf den Mann zu, der das Messer schwenkte. Als er nur noch einen halben Meter von ihr entfernt war, hob er das Messer, mit der anderen Hand wollte er ihre Haare packen. Sie wich leicht zurück, und als er ihr folgte, trat sie einen Schritt nach vorn, und ihre rechte Hand schoss blitzschnell vor, sodass ihr gekrümmter Zeigefinger ihn mit voller Wucht am Nasenrücken traf. Fast zeitgleich hörte sie es knacken und sah Blut aus seiner Nase strömen. Der Angreifer sackte zu Boden, ließ das Messer fallen und hielt sich mit beiden Händen die Nase. Sie hob es auf und warf es über die Mauer.
Der andere hatte tatenlos zugesehen, wie sie seinen Freund kaltstellte. Jetzt näherte er sich ihr, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gang wirkte schwerfällig, fast watschelnd. Ava wusste zwar, dass sie seinen Schlägen leicht ausweichen konnte, wollte es aber nicht darauf ankommen lassen. Als er in Reichweite war, holte sie erneut aus und traf ihn mit der Handkante an der Stirn. Er taumelte rückwärts, sie sprang ihm nach und schlug ihm gegen den Adamsapfel. Er brach zusammen, verdrehte die Augen und umklammerte röchelnd seine Kehle. Manche hatten einen solchen Schlag nicht überlebt.
Der Zwischenfall hatte keine Minute gedauert. Ava schaute sich um. Niemand war zu sehen, keine Autos fuhren auf der Straße. Sie drehte sich um und joggte zurück zum Hotel, vorbei an der Frau, die ihrem Hund noch immer den Stock zuwarf.
22
W ie war das Joggen?«, fragte der Portier, als Ava im Phoenix Hotel ankam.
»Ganz gut«, sagte sie.
Sie hatte zwei Flaschen Wasser gekauft, die sie mit aufs Zimmer nahm. Die Marke war ihr unbekannt, doch sie entdeckte, dass sie in Georgetown abgefüllt worden waren. Nachdem sie in jede zwei Wasseraufbereitungstabletten gegeben hatte, setzte sie sich in den Korbsessel und schaute aufs Meer hinaus. Sie war bereit für den Anruf bei Captain Robbins. Er würde vermutlich nicht selbst ans Telefon gehen, aber sie zumindest zurückrufen. Dann stand sie vor der Herausforderung, sein Interesse zu wecken und ihn dazu zu bewegen, sich mit ihr zu treffen oder zumindest jemanden zu schicken, dem er vertraute. Sie gab die Nummer ein und wartete. Gerade als sie dachte, der Anrufbeantworter würde sich einschalten, sagte eine wohlklingende, kultivierte Frauenstimme: »Sie wünschen?«
»Könnte ich bitte mit Captain Robbins sprechen?« Eine lange Pause entstand, und Ava fragte sich, ob Lafontaine ihr die richtige Nummer gegeben hatte.
»Captain Robbins ist zurzeit leider nicht erreichbar.«
»Könnte er mich zurückrufen? Mein Name ist Ava Lee, ich gehöre dem Havergal College an. Soll ich Havergal für Sie buchstabieren?«
»Nein, das College ist mir bekannt«, sagte sie. »Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen, oder soll ich Captain Robbins etwas ausrichten?«
»Nein, ich muss persönlich mit ihm sprechen.«
»Er hat die Nummer des College. Er kann Sie dort anrufen.«
»Nein, ich bin auf einer Konferenz und benutze mein Mobiltelefon. Ich gebe Ihnen die Nummer«, sagte Ava und nannte ihr die aus Toronto.
»Geht es um eine seiner beiden Töchter?«
»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu erteilen. Bitte sagen Sie ihm, er soll mich so schnell wie möglich zurückrufen.«
»Ich werde es ausrichten.«
Dann rief Ava an der Rezeption an, um sich nach dem Wäscheservice zu erkundigen, und erfuhr, dass ihre Sachen am selben Abend fertig sein würden. Sie legte den Beutel zur Abholung vor die Tür und ging duschen. Das Wasser kam ihr nicht mehr ganz so schmutzig-braun vor, sodass sie diesmal länger unter der Dusche blieb.
Als sie aus dem Bad kam, piepste ihr Handy – so schnell? , dachte sie. Tatsächlich bat Captain
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