Die weise Frau
bist? Dich nicht daran erinnern, daß du ein Judas bist? Ich bin vielleicht gefühlskalt, aber wenigstens habe ich meine Ehre. Ich habe mich dazu entschlossen, dich zu ernähren und dir ein Dach über dem Kopf zu geben, und ich habe mein Versprechen gehalten. Und ich habe noch mehr als das getan — das zu vergessen dir jetzt in den Kram paßt. Aber ich habe dich auf Knien gewiegt und dir Geschichten erzählt. Ich habe dich beschützt, wie ich es versprochen habe. Ich hab dich all meine Künste gelehrt. Von Anfang an durftest du immer zuschauen. Es hat immer eine weise Frau im Moor gegeben, und du solltest meine Nachfolgerin werden. Aber du warst zu klug, um weise zu sein. Du mußtest dein eigenes Schicksal finden, also hast du versprochen, deine Mutter und ihren Gott auf ewig zu lieben. Doch beim ersten Anzeichen von Gefahr bist du wie ein Reh geflüchtet. Du bist eine Frau ohne Loyalität, Alys. Bei dir gilt nur, was gerade deinem Zweck dient.«
Alys hatte sich abgewandt und schaute aus dem Fenster, wo die Sonne gerade durch die Schneewolken brach. Morach sah ihre Hände auf der steinernen Fensterbank, sie klammerte sich so fest daran, daß ihre Knöchel weiß glänzten. »Ich bin nicht sehr alt«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Ich bin noch nicht einmal siebzehn. Ich würde nicht wieder weglaufen. Ich habe seit dem Brand einiges gelernt.«
»Was gelernt?« fragte Morach.
»Ich habe eingesehen, daß es für mich besser gewesen wäre, mit ihr zu sterben, als mit ihrem Tod auf dem Gewissen weiterzuleben«, sagte Alys. Sie drehte sich zurück zum Zimmer, und Morach sah, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war. »Ich dachte, die Hauptsache wäre, daß ich überlebe. Jetzt weiß ich, daß ich meine Flucht zu teuer bezahlen mußte, viel zu teuer. Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich an ihrer Seite gestorben wäre.«
Morach nickte. »Weil du jetzt allein bist.«
»Sehr allein«, wiederholte Alys.
»Und immer noch in Gefahr«, bestätigte Morach.
»In Todesgefahr, jeden Tag«, sagte Alys.
»Und tief in Sünde verstrickt«, endete Morach befriedigt.
Alys nickte. »Mir kann nicht vergeben werden. Ich werde nie beichten können. Ich werde nie Buße tun können. Der Himmel ist für mich unerreichbar.«
Morach lachte leise. »Also doch meine Tochter«, sagte sie, als wäre Alys' Verzweiflung eine wunderbare Posse. »Meine Tochter in jeder Hinsicht.«
Alys überlegte kurz und ließ dann langsam ihren Kopf zum Eingeständnis ihrer Niederlage sinken.
Morach nickte. »Du kannst vielleicht immer noch eine weise Frau werden«, sagte sie bedächtig. »Du mußt mit ansehen, wie alles den Bach hinuntergeht. Du mußt mit ansehen, wie dir alles durch die Finger gleitet, ehe du weise genug bist, ohne all das auszukommen.«
Alys schob bockig ihr Kinn vor. »Ich habe Hugo. Ich habe sein Versprechen. Noch bin ich keine arme, alte Hexe im Moor.«
Morach grinste sie an. »Oh, ja«, sagte sie. »Ich habe ja vergessen, daß du Hugo hast. Welche Freude!«
Alys ließ ihre Hände fallen. »Es ist wirklich eine Freude«, sagte sie trotzig.
Morach grinste wieder. »Hab ich das nicht gesagt?« fragte sie. »Nun denn! Wann seh ich sie? Catherine. Wann seh ich sie?«
»Du wirst sie Lady Catherine nennen«, warnte Alys sie. »Wir können jetzt zu ihr gehen. Sie näht in der Galerie. Aber paß auf, was du sagst, Morach. Kein Wort über Magie, sonst sind wir beide verloren. Sie fürchtet mich nicht mehr als Rivalin, aber der Versuchung, mich loszuwerden, würde sie nicht widerstehen, wenn du ihr die Argumente lieferst, wieder ein Gottesurteil von mir zu verlangen.«
Morach nickte. »Ich vergesse nichts. Mich kauft man nicht mit dem Kleid einer Hure. Ich werde schweigen, bis es an mir ist zu reden.«
Alys nickte und öffnete die Tür. Die Frauen saßen am hinteren Ende der Galerie, wo die fahle Wintersonne durch die Schießscharten auf ihre Arbeit schien. Alle starrten zur Tür, als Alys Morach ins Zimmer führte.
»Und überhaupt«, sagte Morach hinter vorgehaltener Hand. »Ich war es schließlich nicht, die Zauberpuppen benutzt hat, nicht wahr, Alys?«
Alys warf Morach einen wütenden Blick zu und trat vor. »Lady Catherine«, sagte sie. »Darf ich Euch meine Verwandte, Morach, vorstellen.«
Lady Catherine hob den Kopf von ihrer Näharbeit. »Ah, die listige Frau«, sagte sie. »Morach von Bowes Moor. Danke, daß du gekommen bist.«
Morach nickte. »Mir braucht Ihr nicht zu danken«, sagte sie.
Lady Catherine lächelte
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