Die weise Frau
jeden Morgen. Sie hatte Farbe bekommen, und ihre Wangen waren rosig, wenn sie Hugos Briefe las und am Ende angelangt war und sagte: »Da ist noch ein kleiner Absatz, den ich euch nicht vorlesen werde. Der ist ganz allein für mich bestimmt.« Und dann steckte sie den Brief in ihren Beutel und tätschelte ihn, als wolle sie ihn schützen.
Worauf Alys sich immer abwandte. Catherine ließ jedesmal den Brief auf ihrem Kissen ausgebreitet und tat so, als würde sie ihn lesen, wenn Alys ihr die Haare kämmte, eine Aufforderung für Alys, ihn heimlich zu lesen. Alys flüchtete sich in eisige Gleichgültigkeit, sie würde sich nicht dazu herablassen, Catherines Briefe heimlich zu lesen, und außerdem wußte sie, daß Hugo sowieso alles versprechen würde. Liebesgeflüster war ihm ein leichtes.
»Es bedeutet nichts«, sagte sich Alys leise. »Er plant unser gemeinsames Leben, sein Leben mit mir. Und während er plant, hält er sie mit ein paar kleinen Phrasen bei Laune. Ich gönne ihr die paar Worte. Sie sind wie sinnlose Zaubersprüche. Sie bedeuten nichts. Sie bedeuten nichts.«
»Meiner Treu, du siehst vielleicht sauer aus«, sagte Morach fröhlich, als sie eines Abends zu Bett gingen. »Schmachtest du nach dem jungen Lord?«
Alys hob gleichgültig eine dünne Schulter, sprang ins Bett und zog sich die Decke über die Ohren.
»Es tut weh, was?« sagte Morach, »dieser Blödsinn mit der Liebe? Du hättest ihn dir besser für immer vom Leib halten sollen, als ihn zu lieben und dann zu verlieren, ohne ihn je gehabt zu haben. Es wäre besser gewesen, wenn du dein Versprechen, deine Magie aufzugeben, ihm gegenüber vergessen hättest, so wie er sein Versprechen dir gegenüber vergessen hat.«
»Er hat es nicht vergessen«, herrschte Alys sie an. »Du hast ja keine Ahnung, Morach. Ich habe ihn nicht verloren. Er hat mich gebeten, auf ihn zu warten, und ich warte. Wenn er nach Hause kommt, wird alles anders werden. Ich warte auf ihn. Und ich bin glücklich dabei.«
»Das sieht man«, sagte Morach voller Ironie. »Du verlierst deine Schönheit, dein Gesicht ist blaß und abgehärmt. Du wirst jeden Tag dünner. Dein Busen wird immer weniger, und dein Bauch ist flach wie ein Würfelbrett. Wenn du noch lange wartest, wirst du vom Warten ausgelaugt sein.«
Alys legte sich ins Bett und drehte sich zur Wand. »Dämm das Feuer ein, ehe du schlafen gehst«, sagte sie kühl. »Ich werde schlafen.«
Morach und Lady Catherine hatten sich überraschenderweise verbündet. Jeden Tag und jeden Abend klatschten und plapperten sie in der überheizten Galerie. Alys saß so weit wie möglich vom Feuer entfernt und beobachtete die beiden. »Wie zwei alte Vetteln«, murmelte sie vor sich hin.
Morach hatte nicht wie die übrigen Damen Angst vor Catherine, und Catherine, die geborene Tyrannin, amüsierte es, daß sie ihre Meisterin gefunden hatte. Eines Tages bestand Morach darauf, zu ihrer Hütte zu reiten, obwohl der Schnee schwer war und der Himmel verhangen und bedrohlich. Lady Catherine untersagte es. »Du kannst morgen reiten«, sagte sie.
Morach nickte, ging in ihre Kammer und kam mit ihrem Umhang um die Schultern und einem Schal über dem Kopf zurück.
»Ich habe gesagt, du sollst es auf morgen verschieben«, sagte Catherine ungeduldig.
»Ich könnte morgen reiten, und ich könnte übermorgen reiten oder nächste Woche. Aber ich möchte heute«, sagte Morach ungerührt.
Catherine schnippte mit den Fingern. »Es wäre besser, wenn du lernst, Morach, daß in diesem Schloß die Dinge nach meinen Wünschen funktionieren, nicht nach deinen.«
Morach lächelte geheimnisvoll. »Ich nicht, Mylady«, sagte sie. »Ich bin anders.«
»Ich könnte dich trotzdem auspeitschen lassen«, drohte Catherine.
Morach begegnete furchtlos ihrem wütenden Blick. »Das würde ich Euch nicht raten, Mylady«, sagte sie. Dann drehte sie ihr den Rücken zu und verließ die Galerie, als hätte sie die Erlaubnis zu gehen und Catherine hätte ihr Gottes Segen gewünscht.
Alle schwiegen schockiert, und dann begann Catherine lauthals zu lachen. »Meiner Treu, die alte Frau wird am Galgen enden«, sagte sie. Die Damen stimmten in ihr Lachen ein und wechselten ängstliche Blicke. Nur Alys saß schweigend da. Als Morach abends zurückkam, nachdem sie irgendwelche geheimnisvollen Geschäfte erledigt hatte, behandelte Catherine sie, als wäre nichts gewesen.
Eines Tages, Ende März, schickte Hugo Catherine einen Brief, in dem er ihr mitteilte, daß er in wenigen
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