Die weise Frau
keiner etwas anhaben«, sagte Alys. Sie schaute aus dem Fenster. »Aber du...«, flüsterte sie Catherine zu. »Du bist sehr nahe am Wasser. Und der Zauber der Puppen war sehr mächtig. So mächtig, daß dein Mann zu dir gegangen ist und dich mit solcher Leidenschaft geliebt hat, daß er mich ganz vergessen hat. Es war meine Macht, die ihn zu dir getrieben hat. Es war meine Macht, die dich ein Kind hat empfangen lassen. Und deine Puppe, Catherine, war am Ertrinken.«
Alys schwieg einen Augenblick, das beschwörende Flüstern legte sich über den Raum.
»Ich hatte eine Vision von Hugo und mir«, murmelte sie. »Vielleicht bedeutete sie, daß du stirbst, Catherine. Vielleicht wirst du sterben. Vielleicht wirst du jetzt ertrinken.«
Morach, die in geringer Entfernung hinter dem Paar ging, blieb stehen und legte den Kopf zur Seite, als lausche sie einem fernen Geräusch.
»Vielleicht wird es jetzt passieren«, flüsterte Alys. Sie drückte sich an den Fenstersims, preßte ihren ganzen Körper gegen den kalten Stein, zwang ihren Willen durch die Mauern der Burg.
»Vielleicht jetzt, Catherine«, sagte sie. Sie begann zu summen, ganz tief in der Kehle, ein mächtiges, schläfriges Geräusch wie von einem Schwarm giftiger Bienen. »Vielleicht jetzt«, flüsterte sie sehnsüchtig. »Das Wasser ist sehr tief und sehr kalt, Catherine. Die Steine sind sehr spitz. Wenn du jetzt ausrutschst und fällst, wirst du in die Tiefe gerissen, und bis sie dich herausholen, werden deine Lungen und dein Bauch voller eisigem Wasser sein. Du hast mich fast ertränkt. Ich weiß, was das für ein Gefühl ist. Und bald wirst du es auch wissen.«
Morach stand da wie ein Hund, der auf das Jagdhorn lauscht. Dann drehte sie sich blitzschnell zur Burg und starrte sie an, ihr Blick strich über die Schießscharten, als würde sie Alys suchen, fast als hätte sie Alys laut und deutlich gerufen. Sie schaute direkt auf den schmalen Fensterschlitz im großen Turm, hinter dem Alys stand. Einen Augenblick lang starrten sich die beiden Frauen an, und Alys wußte — trotz der Entfernung, trotz der Enge der Schießscharte und der Dunkelheit des Raums —, daß ihr Morach direkt in die Augen sah und ihre Gedanken las. Dann brüllte Morach eine wortlose Warnung und begann auf Catherine zuzulaufen.
Bei diesem Schrei wirbelte Hugo herum und griff nach seinem Schwert. Catherine drehte sich um, rutschte auf dem schlammigen Weg aus, machte einen Schritt rückwärts und stolperte. Ihre Arme ruderten wie die eines hilflosen Kindes. Alys, die alles mit brennenden Augen beobachtete, summte lauter und lauter, tief in der Kehle, und es war, als würde die Macht des Geräusches die kleine Gestalt in ihren voluminösen Pelzen herunterdrücken. Catherine versuchte, wild um sich schlagend, Halt zu finden, und fiel schreiend, mit weit aufgerissenem Mund langsam hintenüber. Dann war es geschehen — Kopf voraus, im hohen Bogen über die Felsen am Rande des Flusses, in den tiefen Teich und weiter in die reißenden Wasser.
Hugo zerrte an seinem Schwert, warf es beiseite, brüllte den Soldaten zu, zu helfen, und sprang hinunter zu den Felsen am Ufer des Flusses, warf sich ins Wasser. Aber Morach war schneller. In Sekundenschnelle hechtete sie in den tiefen Teich. Sie kam wieder hoch und tauchte erneut.
»Aus dem Weg, Morach«, hauchte Alys durchs Fenster, zitternd vor Wut. »Du bist meine Verwandte, nicht ihre. Laß sie, Morach! Laß sie in Ruhe!«
Morach schüttelte den Kopf, als wolle sie die Stimme in ihrem Ohr abschütteln, und tauchte. Etwas blitzte weiß auf, als ihre Füße eintauchten, und dann ein Gewirr von Farben nassen Stoffes, als sie mit Catherine in den Armen wieder auftauchte. Hugo watete bis zur Taille ins Wasser und packte Catherine. Alys sah, daß sie bewußtlos war, wußte aber, daß die Frau nicht tot war. Es wäre wirklich ein seltener Glücksfall gewesen, wenn sie sich den Hals gebrochen oder ihren Schädel an einem Felsen eingeschlagen hätte.
Hugo raffte Catherine in seine Arme und streckte dann die Hand nach Morach aus. Ein Soldat sprang hinunter und half, die beiden Frauen seinem Kameraden am Ufer weiterzureichen. Alys beobachtete alles mit aschfahlem Gesicht. Sie sah, wie Hugo Catherine hochraffte und stolpernd auf die Pferde zulief. Sie sah, wie Catherine das Sattelhorn mit einer schlaffen Hand ergriff, als man sie aufs Pferd setzte, und Morach hinter einen der Soldaten auf das Roß gehoben wurde. Die kleine Kavalkade verschwand hinter der
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