Die weise Frau
Halt meine Hand fester, Alys! Rede mit mir! Ich habe Angst!«
Alys lachte trocken auf. »Ich bin hier, Lady Catherine«, sagte sie. »Könnt Ihr mich nicht sehen? Das Feuer brennt lichterloh, es ist furchtbar heiß. Könnt Ihr nichts fühlen? Und alle Kerzen sind angezündet — wunderbare, helle Bienenwachskerzen. Der Raum ist taghell. Ist er für Euch ganz dunkel? Ist er endlich ganz dunkel für Euch?«
»Alys!« flehte Catherine sie an. »Halt mich fest, Alys, bitte! Drück mich an dich! Ich hab das Gefühl, das Wasser zieht mich runter. Ich ertrinke, Alys. Ich ertrinke in meinem Bett!«
»Ja«, keuchte Alys triumphierend. »So hast du mich das letzte Mal im Graben erwischt. Du hast mir zugerufen und mich dann hinuntergezogen! Aber diesmal ertränke ich dich! Ich brauche meine Hände nicht um deinen Hals zu legen. Ich brauche nur deine Hand festzuhalten, wie du es wünschst, und du wirst untergehen, Catherine. Du wirst alleine untergehen, und du wirst in deinem Bett ertrinken.«
»Alys!« rief Catherine. Ihre Stimme war nur noch ein dünner Faden. Sie fing an zu würgen, als wäre eine Woge eisigen grünen Wassers in ihren Mund geschwappt.
Alys lachte wieder, ein verrücktes, hemmungsloses Lachen. »Du ertrinkst, Catherine«, sagte sie, erstaunt über ihre eigene Macht. »Morach konnte dich aus dem Fluß ziehen, aber nichts und niemand kann dich jetzt vorm Ertrinken retten! Du gehst unter, Catherine! Du gehst unter! Du ertrinkst in deinem Bett!«
Die Tür klickte hinter ihnen, und Alys wirbelte herum. Es war Hugo. Hinter ihm standen der alte Lord und David. Er schaute verwirrt von einer Frau zur anderen.
»Was ist los?« fragte er.
Alys holte tief Luft. Das helle, heiße Zimmer drehte sich plötzlich wie die Regenbogenfarben in einem pendelnden Kristall. »Sie hat Angst«, sagte sie. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Und sie klammert sich an mich! Ich habe versucht, die anderen Frauen zu rufen, aber sie haben mich nicht gehört. Und mir ist übel.«
Sie schwankte, und Hugo ging schnell auf sie zu. Alys taumelte ihm entgegen, aber David war es, der sie auffing.
Hugo drehte sich nicht einmal nach ihr um. Er hielt Catherine fest im Arm, und sie schluchzte an seiner Schulter.
17
Catherine war lange Zeit krank, die ganzen schönen Maitage, als die Sonne klar und früh aufging und die Vögel bis zur Abenddämmerung sangen, aber sie beklagte sich nicht. Sie lag ruhig in ihrem Bett, das man zu dem kleinen Fenster hinübertrug, damit sie sich in ihren Kissen aufsetzen und das Leben in der Burg beobachten konnte. Sie wurde schnell müde und hatte es gerne, wenn Alys bei ihr saß und ihr vorlas.
Lord Hugh schickte ihr Bücher und Gedichte und selbst einige Briefe aus London, die von dem Prozeß gegen Königin Anne und ihrer Hinrichtung berichteten. »Durch die Hand eines französischen Schwertkämpfers, der eigens für diesen Zweck ausgebildet und hierhergeholt wurde«, las Alys Catherine vor.
Catherine schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nie gemocht. Ich bin nach Königin Katharina benannt, weißt du, Alys. Ich habe immer geglaubt, daß Königin Anne Boleyn stürzen wird. Sie war eine Ehebrecherin, erst mit dem König und dann mit seinen Höflingen. Ich werde nicht um sie trauern. Ihr Aufstieg war unchristlich schnell.«
»Auch nicht schneller als der von Jane Seymour«, sagte Alys ganz logisch. »Sie war bei beiden Hofdame. Und sie wird auch Königin werden. Wenn ein Mann König ist oder sogar nur Herr über sein Schicksal, wird er die Frau wählen, die er will. Und sie kann aufsteigen, wie es ihm gefällt.«
Catherine drehte ihren Kopf auf dem Kissen und lächelte Alys an. »Eine Heirat aus Liebe ist das beste«, sagte sie befriedigt. »Eine Ehe aus Liebe zwischen Gleichgestellten ist das beste.«
Hugo besuchte sie jeden Morgen und blieb bis Mittag bei ihr. Dann aßen sie in ihrem Gemach zu Mittag. Der Tisch in der großen Halle schien seltsam leer ohne sie. Oft war es Alys, die ihnen das Essen servierte. Hugo registrierte ihre Bedienung kaum. Er hatte nur Augen für Catherine, drängte sie, die feinsten Dinge zu essen und ein kleines Glas guten Wein zu trinken, um ihr Blut zu stärken. Es war Catherine, die Alys dankte.
Alys war dünner denn je zuvor. Das Kleid von Meg, der Hure, hing ihr trotz Gürtel tief herunter, und das Mieder, geschnürt, so fest es ging, drückte ihre kleinen Brüste platt, hing aber locker um den Bauch. Ihre Schultern waren knochig wie die einer alten Frau, ihr
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