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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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und es bleibt so wenig Zeit...«
    Alys sah sie eindringlich an. »Was hast du gesehen?« fragte sie. »Was heißt, wenig Zeit?«
    Morach zuckte mit den Achseln. »Ich kann nichts erkennen«, sagte sie. »Ich sehe einen Hasen und eine Höhle und Kälte und Ertrinken. Und wenig Zeit.«
    »Einen Hasen?« fragte Alys. »Einen Märzhasen? Einen Zauberhasen? Einen Hasen, der eine fliehende Hexe ist? Was bedeutet das, Morach? Und eine Höhle? Und einen Tod durch Ertrinken? War das, was Catherine hätte passieren sollen? In einer Höhle ertrinken und hinabgezogen und vom Fluß vergraben werden?«
    Morach schüttelte wieder den Kopf. »Ein Hase, eine Höhle, Kälte und Ertrinken und sehr wenig Zeit«, wiederholte sie. »Stell mir keine Fragen, Alys, denn ich werde nichts tun, bis ich meinen Weg sehen kann. Ich erkenne Gefahr, wenn man mich mit der Nase draufstößt. Ich kenne Angst vor Feuer und Angst vor Wasser. Zwing mich nicht weiterzugehen, wenn ich Gefahr wittere, Alys.«
    Angsterfülltes Schweigen legte sich über den Raum. Die Frau saß da, reglos wie ein ertapptes Reh, und wartete darauf, daß das wachsende Gefühl des Entsetzens sich legte. Es dauerte einige Augenblicke, bis eine von ihnen wieder etwas sagte.
    »Du mußt etwas tun«, sagte Alys langsam. Sie schaute hinunter zu den Puppen in ihrem Schoß. Und ihr Gesicht strahlte in einer Mischung aus Angst und Triumph.
    »Warum?«
    »Weil die Puppen zum Leben erwacht sind«, sagte Alys. Sie beugte sich näher und sah, wie ihre kleinen Brustkörbe sich langsam hoben und senkten, im genüßlichen Rhythmus des Atmens. »Sie sind lebendig«, sagte sie. »Wir müssen etwas mit ihnen unternehmen, Morach, sonst werden sie selbst aktiv werden.«
    Alys hatte Morach noch nie verängstigt gesehen. Jetzt aber schien die Frau in sich zusammenzusinken, als würde sie frieren oder wäre hungrig. Die langen, harten Jahre auf dem Moor hatten anscheinend doch ihre Spur hinterlassen, und der Glanz und der Wohlstand der Wochen auf der Burg fielen ab, als wären sie nie dagewesen.
    Sie hatten die Puppen unter ihrem Kissen versteckt. Nachts spürte Alys, wie sie sich unter ihrem Kopf wanden. Tagsüber fühlte sie, wie ihre Augen sie verfolgten, durch das Kissen, durch die Decke. Sie lebten mit den zwei Frauen, drei monströse kleine Geister, die zum Leben erwacht waren und die jetzt keiner mehr töten konnte.
    Sowohl Morach als auch Alys hatten Angst, jemand könnte sehen, wie sich die Bettdecke bewegte und anhob. Sie fürchteten, eine gewissenhafte Magd würde ungebeten hereinkommen, um das Bett aufzuschütteln. Sie fürchteten die neugierigen Blicke Eliza Herrings oder einen Überraschungsbesuch von Pater Stephen. Sie sahen die kleinen Puppen im Geiste so deutlich, daß es für sie unbegreiflich war, daß keiner sonst sie sah, daß keiner ihre Anwesenheit spürte, daß keiner den gelegentlichen kleinen Schrei, gedämpft durch das Kissen, hinter der geschlossenen Tür hörte.
    »Was sollen wir mit ihnen machen?« fragte Alys Morach im Morgengrauen des dritten Tages.
    Keine von beiden Frauen hatte geschlafen, die kleinen Puppen hatten sich die ganze Nacht unter dem Kissen bewegt. Am Ende hatten sie sich zum Schutz vor der kalten Morgenluft warm eingewickelt, Holz aufs Feuer geworfen und hatten sich dicht aneinander gedrängt, vor den Kamin gehockt und beobachtet, wie die Flammen aufloderten.
    »Können wir sie verbrennen?« fragte Alys.
    Morach schüttelte den Kopf. »Das wage ich nicht«, sagte sie, »jetzt nicht mehr, wo sie so lebendig sind. Ich weiß nicht, was sie machen würden.« Ihr Gesicht war grau und eingefallen vor Angst und Müdigkeit. »Was, wenn sie aus dem Feuer springen und uns geschmolzen und heiß nachrennen?« fragte sie. »Wenn die Puppen uns nicht selbst verbrennen, dann würde es Lord Hugh wegen Hexerei tun. Ich wünschte bei allen Göttern, ich hätte sie dir nie gegeben.«
    Alys zuckte mit den Achseln. »Du hast mir den Zauberspruch beigebracht, der ihnen Macht gibt. Du mußt doch gewußt haben, daß sie uns auf ewig erhalten bleiben.« Morach schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie gehört, daß so etwas passiert ist. Das warst du, Alys. Es ist deine Macht. Deine Macht und der große Haß, den du ihnen eingeflößt hast.«
    Alys ballte die Hände unter der Decke. »Wenn ich schon diese Macht habe, warum bekomme ich dann nicht, was ich will?« fragte sie. »Ich kann so schwere Fehler machen, daß mein Leben in Gefahr ist. Ich kann meine Mutter verraten und all

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