Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
es zur Abweisung des DAT-Gesuchs um Umlaufbahnfotos. Und selbst wenn Mitglieder des MMT von der Möglichkeit sprachen, dass die Columbia in Schwierigkeiten sein könne, wurde eine entsprechende Diskussion eingeengt durch ihre Überzeugung, dass es keine echten Schwierigkeiten gab; darum wurden Hinweise, die dem widersprachen, erst gar nicht ernst genommen. Das Team fiel dem psychologischen Phänomen des Suchens nach Bestätigung zum Opfer; es suchte, unbewusst, nur nach Informationen zur Bekräftigung seiner bereits feststehenden Meinung.
Verstärkt wurden solche Schwierigkeiten noch dadurch, dass das MMT sich für informierter und klüger hielt, als es war. So wies es das Gesuch der Raumfähren-Manager um Fotos beispielsweise mit der Begründung zurück, solche Fotos seien zwecklos, da der zur Identifizierung der winzigen Lokalität des Trümmereinschlags erforderliche Grad von Bildauflösung nicht realisierbar sei. Wie das CAIB später monierte, hatte aber kein Mitglied des MMT den nötigen Sicherheitspass, um überhaupt wissen zu können, wie hochgradig die Bildauflösung der Fotos sein würde; und es hatte sich vorher auch niemand beim Verteidigungsministerium – das für die Aufnahmen zuständig war – nach der zu erwartenden Bildqualität erkundigt. Das heißt, die Mitglieder des MMT »trafen kritische Entscheidungen über mögliche Bildqualitäten auf der Basis geringer beziehungsweise nicht existenter Kenntnisse«. Ihre Selbstsicherheit grenzte an Dreistigkeit.
Sozialwissenschaftler unterscheiden zwei Typen von Geschworenenjurys. Es gibt Jurys, die sich bei ihrer Bewertung eines Falles primär am Be- und Entlastungsmaterial orientieren; sie stimmen gewöhnlich gar nicht ab, ohne die Sache zuvor länger debattiert, das Beweismaterial sondiert und alternative Erklärungen für den Tathergang bedacht zu haben. Andere Jurys dagegen betrachten es als ihre Aufgabe, schnellstmöglich ein eindeutiges Urteil zu fällen; sie stimmen ohne jede vorherige Diskussion ab, und nachfolgende Debatten dienen im Wesentlichen nur dem Zweck, die Vertreter einer abweichenden Minderheitenmeinung in ihrem Sinne umzustimmen. Solche Jurys arbeiten urteilsbezogen. Genau das hat eben auch, wenngleich kaum bewusst, das MMT getan, wie insbesondere an der Formulierung der Fragen Linda Hams deutlich wird. So schickte die MMT-Chefin beispielsweise am 22. Januar – am Tag nach der Sitzung, auf der das fragliche Schaumstoffstück erstmals erwähnt wurde – an zwei Teamangehörige E-Mails zum Thema, ob der Einschlag des Schaumstoffstücks die Sicherheit der Columbia gefährden könne: »Können wir davon ausgehen, dass der Verlust eines Schaumstoffteils vom Außentank wegen der Dichte [der Atmosphäre] dem Flugkörper keinen Schaden zufügen kann, der ›die Sicherheit des Fluges‹ gefährdet?« Die Frage war in einer Form gestellt, dass sie eine bestimmte Antwort präjudizierte; sie gab die erwartete Antwort vor. Unter dem Anschein, dass es hier um weitere Nachforschungen ging, blockte sie ebensolche Nachforschungen gleich ab. Ein Teammitglied verweigerte übrigens die erwartete Antwort. Austin Lambert antwortete mit »NEIN«, in Großbuchstaben, um anschließend anzufügen, dass sich die Möglichkeit einer gravierenden Beschädigung der Fliesen durch das Schaumstoffstück zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise von vornherein »Auschliessen« lasse. Doch Austins Mahnung zur Vorsicht fand wenig Beachtung.
Das mangelnde Nachfassen lässt sich möglicherweise mit der stillschweigenden Annahme des Teams erklären, dass im Falle eines Schadens ohnehin nichts zu machen sei. Man erinnere sich an die bereits zitierte Aussage Linda Hams auf der Sitzung vom 21. Januar: »Und ich glaube echt nicht, das wir viel machen könnten. Es ist also für die Dauer des Fluges nicht echt ein Faktor, weil es nicht viel gibt, was wir tun könnten.« Zwei Tage später traf sich Calvin Schomburg – der technische Experte, der von Anfang an ausgeschlossen hatte, dass das Schaumstoffteil die Fliesen ernsthaft beschädigen könnte – mit Rodney Rocha, einem NASA-Ingenieur, der zum inoffiziellen DAT-Sprecher geworden war. Das DAT trieb mittlerweile die zunehmende Sorge um, der durch das Schaumstoffstück verursachte Schaden könne beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zu einem Ausbrennen der Columbia führen. Schomburg beendete die Diskussion mit der Bemerkung: Falls die Kacheln tatsächlich ernsthaft beschädigt worden sein sollten, könne »man nichts dagegen
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