Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
nicht funktionieren.
Was bisher vor allem fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass die in diesem Buch vorgestellten nichthierarchischen Methoden den Unternehmen beim Lösen jener Kognitionsaufgaben helfen können, bei denen es um die Formulierung von Strategien und Taktiken geht. Dazu gehört alles – von Entscheidungen über potenzielle neue Produkte, das Errichten neuer Werkshallen, die Festsetzung von Preisen und Nachfrageprognosen bis hin zu Fusionen. Heute obliegt in den meisten Unternehmen die letztliche Entscheidung darüber einer Person: dem Generaldirektor. Und doch sind solche Aufgaben wahrscheinlich am ehesten durch kollektive Entscheidungen, und sei es durch solche kleiner Gruppen, lösbar.
Es ist eine der bemerkenswerten Widersprüche der neunziger Jahre, dass Unternehmen trotz zunehmender Sensibilisierung für die Vorteile der Dezentralisierung und die Bedeutung von nichthierarchisch geordneten Arbeitsabläufen gleichzeitig ihre CEOs als Superhelden feierten. Und dies taten natürlich nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Investoren, die Medien und sogar die allgemeine Öffentlichkeit. In den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts war der Name Alfred Sloan für den durchschnittlichen Amerikaner kein Begriff gewesen. Fünf Jahrzehnte später wusste er sehr wohl, wer Jack Welch war. Die entsprechende Wende kam mit den achtziger Jahren, als Lee Iacocca durch die Rettung des maroden Automobilkonzerns Chrysler zum Symbol des wieder auflebenden amerikanischen Kapitalismus wurde. Richtig Fahrt nahm der neue Trend dann in den neunziger Jahren auf, als selbst äußerst gewöhnlich wirkende Personen schon nach ein paar Erfolgsjahren zu »Visionären« gestempelt wurden. Wie Professor Rakesh Khurana von der Harvard Business School bemerkte, erwarteten Firmen von ihren Vorstandsvorsitzenden, dass sie sich als »Unternehmensretter« bewährten.
Problematisch daran war nicht nur der Hype, die Aufbauschung selbst, es waren auch nicht die enormen Dotationen, welche CEOs aller Schattierungen während dieses Jahrzehnts für sich an Land zu ziehen verstanden. Problematisch war vor allem, dass die Leute solchem Aufbauschen tatsächlich glaubten; sie glaubten wirklich, dass die richtige Person an der Spitze schon den Unternehmenserfolg garantiert. Die Vorstellung fand ihren populären Ausdruck etwa in dem stetig wiederholten Satz, dass ein CEO wie John Chambers beim Konzern Cisco »300 Milliarden Dollar an Shareholder-Value« geschaffen habe – als ob allein er Cisco nicht nur die Vorherrschaft in einem ganzen Technologiesektor gesichert habe, sondern auch persönlich dafür verantwortlich sei, dass die Investoren den Wert der Cisco-Aktie übersteigerten. Völlig grundlos war freilich auch letztere Annahme nicht. In einer bemerkenswerten Neunziger-Jahre-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Burson Marsteller erklärten 95 Prozent der befragten Anleger, bei Aktienkäufen sei für sie der Ruf des Unternehmensleiters maßgeblich.
Das kann nur verwundern, denn es gibt kaum Belege dafür, dass Einzelpersonen durchgehend zu außergewöhnlich korrekten Prognosen oder herausragenden strategischen Entscheidungen in der Lage sind. Es ist Thema einer offenen Diskussion, inwieweit CEOs überhaupt eine ausschlaggebende Rolle spielen. Nach Auffassung mancher Wirtschaftswissenschaftler ist ihr Beitrag zur Unternehmensleistung eher gering. Und selbst überzeugte Verfechter der These, dass Vorstandsvorsitzende die Geschicke eines Unternehmens maßgeblich beeinflussen, geben vorsorglich zu bedenken, dass ihr Einfluss sowohl positiv als auch negativ sein kann.
Die Beurteilung der Leistungen von CEOs fällt darum so schwer, weil es an objektiven Vergleichsmöglichkeiten mangelt und ihre Entscheidungen in der Regel keine eindeutigen, messbaren Folgen zeitigen. Das wenige vorliegende Datenmaterial stimmt freilich ganz und gar nicht zuversichtlich. Bereits innerhalb der ersten zwölf Monate erweisen sich rund 80 Prozent aller neu auf den Markt geworfenen – also vermutlich durch den gerade amtierenden CEO abgesegneten – Produkte als Blindgänger. Und obwohl während der neunziger Jahre die Gehälter von Führungskräften in schwindelnde Höhen stiegen, wuchsen die Renditen der Unternehmen nicht wesentlich. Es ist ferner bezeichnend, dass ungefähr zwei Drittel aller Firmenübernahmen und -fusionen letzten Endes zu einer Kapitalvernichtung führten. Um es ganz unmissverständlich auszudrücken: Ohne diese Akquisitionen wäre es
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