Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Scott Armstrong von der Wharton University hat Studien über das Verhältnis von Expertenprognosen und ihrem Wahrheitsgehalt in einem breiten Spektrum von Tätigkeitsfeldern gesichtet und festgestellt: »Ich vermochte nicht eine einzige Studie zu entdecken, die [bei Prognosen] einen signifikanten Vorteil von Fachkenntnis zeigte.« In manchen Fällen waren Experten im Prognostieren ein bisschen besser als Laien (wenngleich in einer Reihe von Untersuchungen nachgewiesen wurde, dass zum Beispiel Nichtpsychologen menschliches Verhalten besser einschätzen als Psychologen). Doch oberhalb eines niedrigen Niveaus stehen, wie Armstrong aus seiner vergleichenden Studie folgerte, »Fachkompetenz und Prognosengenauigkeit in keinem Verhältnis«. James Shanteau, ein führender amerikanischer Theoretiker in Sachen Fachkompetenz, hat viel Zeit darauf verwandt, eine Methode zu ihrer Evaluierung zu entwickeln. Selbst er kommt zu dem Resultat, dass »Entscheidungen von Experten bedenklich fehlerhaft sind«.
Shanteau resümiert eine Fülle von Studien, in denen nachgewiesen werden konnte, dass Urteile von Experten weder im Einklang mit den Auffassungen anderer Fachleute desselben Gebiets noch in sich stimmig sind. So liegt beispielsweise in vielen Bereichen – wie etwa Lagerhaltung, Viehzucht und klinischer Psychologie – das Niveau der Übereinstimmung unter fünfzig Prozent; daraus lässt sich folgern: Konsens unter Experten ist so wahrscheinlich wie Dissens. Noch verstörender ist das Resultat einer anderen Untersuchung: Die Übereinstimmungsquote unter Pathologen betrug lediglich 0,5, was bedeutet, dass in der Hälfte aller Fälle, wo eine zweite Meinung eingeholt werden muss, mit einem abweichenden Befund zu rechnen ist. Außerdem sind Experten erstaunlich schlecht im »Kalibrieren« – um einen sozialwissenschaftlichen Terminus zu verwenden -, also in der qualitativen Gewichtung ihrer Beurteilung. Wer seine Urteile gut kalibriert, bekommt eine Vorstellung von der wahrscheinlichen Richtigkeit seiner Prognosen. Doch Experten unterscheiden sich eben in vielem nicht von gewöhnlichen Menschen, die die Wahrscheinlichkeit, dass sie Recht haben, viel zu hoch einschätzen. Der Ökonom Terrance Odean kam in einer Untersuchung zum Problem übersteigerten Selbstvertrauens zu dem Schluss, dass Ärzte, Krankenschwestern, Juristen, Ingenieure, Unternehmer und Investmentbanker mehr zu wissen glauben, als sie wirklich wissen. In ähnlicher Weise ergab eine jüngste Untersuchung über den Devisenhandel, dass Devisenhändler in 70 Prozent der Fälle die Richtigkeit ihrer Wechselkurs-Prognosen überbewertet hatten. Mit anderen Worten: Die Händler hatten sich nicht bloß geirrt, ihnen war auch nicht bewusst geworden, wie sehr sie mit ihren Prognosen danebenlagen. Und das scheint bei Fachleuten die Regel zu sein. Routinemäßig gut kalibrierte Voraussagen bieten offenbar nur professionelle Bridgespieler und Wetterfrösche. Es regnet im Schnitt 30 Prozent des Jahres, für die Meteorologen eine dreißigprozentige Wahrscheinlichkeit, Regen vorherzusagen.
Armstrong, der auf das Thema Fachkompetenz und Prognostik spezialisiert ist, hat die Situation folgendermaßen zusammengefasst: »Man würde von Fachleuten erwarten, dass sie über verlässliche Informationen zur Vorhersage von Veränderungen verfügen und imstande sind, solche Informationen effektiv zu nutzen. Oberhalb eines niedrigen Niveaus ist Fachwissen für dergleichen jedoch von geringem Wert.« Er konnte auch keine Hinweise darauf entdecken, dass, wenn schon Experten bei Vorhersagen generell nicht sehr gut abschneiden, zumindest einige Koryphäen herausragen. Nein, »der Anspruch, den Einzelne für die Treffsicherheit ihrer Prognosen geltend machen«, schreibt Armstrong, »ist allem Anschein nach ohne jeden praktischen Wert«. Aus solchen Erkenntnissen hat Armstrong seine »Seer-sucker«-Theorie abgeleitet: »So stark auch die Beweise sein mögen, dass Seher nicht existieren – es gibt immer Dumme, die die Existenz von Sehern finanzieren.«
Das bedeutet – es sei noch einmal betont – keinesfalls, dass, um effiziente Beschlüsse zu fassen, gut informierte, hochdifferenzierte Analysten überflüssig seien. (Und das heißt ganz sicher auch nicht, dass man sich Scharen von Amateuren wünscht, die kollektiv die Arbeit von Chirurgen oder den Job von Flugzeugpiloten zu übernehmen versuchen.) Zu bedeuten hat es jedoch Folgendes: Wie gut informiert und hochqualifiziert ein Experte auch sein
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