Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
wahrscheinlich ist es allerdings nicht. Romers Untersuchung legt nahe, dass die Vorteile eines Offensivspiels beim Fourth Down so gravierend sind, dass man sie nicht als Zufälligkeiten oder statistisches Konstrukt abtun kann. Mannschaften, die bei einem Fourth Down offensiver spielten, würden ihren Rivalen zweifelsohne Vorteile abjagen. Warum sind dann Trainer dermaßen vorsichtig?
Es hat meines Erachtens viel mit Nachahmung, der Kraft des »sozialen Beweises« und den Beschränkungen durch ein Gruppendenken zu tun. Zunächst einmal – und vielleicht ist das sogar der Kernpunkt – gilt die konservative Spielgestaltung beim Fourth Down im Profifootball nahezu als Grundgesetz. Und in Ermangelung eindeutiger Beweise des Gegenteils fällt es Einzelpersonen sehr viel leichter, bestehende Praktiken zu rechtfertigen, als sich davon abweichende Lösungen auszudenken: Dass alle anderen nicht offensiv spielen, kann doch wohl nur heißen, dass eine offensive Spieltaktik nichts bringt.
Der Impuls zu solch nachahmerischem Verhalten wird noch dadurch verstärkt, dass Football – wie alle Profisportarten – eine ungemein komplexe, in sich geschlossene Welt ist. Natürlich hat es in diesem Sport zahllose Neuerer gegeben – zu denen auch Martz gehört -, doch herrscht hier ebenso eine merkwürdige Engstirnigkeit, was die statistisch untermauerte Spielauswertung betrifft. Die Entscheidungsträger zeichnen sich, anders ausgedrückt, nicht gerade durch Mannigfaltigkeit aus. So sind von ihnen auch kaum radikale Innovationen zu erwarten – und noch weniger ist damit zu rechnen, dass sie entsprechende Vorschläge prompt aufgreifen. Nochmals in anderen Worten: Die Fehler, die die meisten Football-Trainer begehen, sind systemimmanent: Alle weisen in die gleiche Richtung. Das macht auch das Problem der meisten Baseball-Mannschaften der Major League aus, wie Michael Lewis in seinem hervorragend recherchierten Buch über die seinerzeitige Erfolgsserie der »Oakland A’s« nachzuweisen vermochte. Den Strategen der »Oakland A’s«, Billy Beane und Paul DePodesta, ist es angesichts dieser verbreiteten Engstirnigkeit gelungen, mit einem Minimum an verfügbaren Geldern ein äußerst erfolgreiches Team aufzubauen, weil sie den »sozialen Beweis« negierten und die vordem konventionelle Spielstrategie und -taktik ihrer Mannschaft aufgaben zugunsten diverser Methoden betreffend Evaluierung und Weiterentwicklung der Spieler. (In ähnlicher Weise hat unter den Trainern der National Football League [NFL] nur ein Einziger Romers Erkenntnisse aufgegriffen und möglicherweise sogar in die Praxis umgesetzt: Bill Belichick von den »New England Patriots«, die nicht zuletzt, weil Belichick die konventionelle Weisheit dieser Sportart missachtete, binnen drei Jahren zweimal die Super Bowl gewannen.)
Ein anderes Motiv für die Vorsicht von NFL-Trainern dürfte, wie schon Romer anführt, die Scheu vor Risiken sein. Taktisch gesehen mag es zwar sinnvoll erscheinen, Fourth-Down-Chancen offensiv wahrzunehmen, wenn es da nicht noch den psychologischen Faktor gäbe. Die Strategie Romers würde schließlich auch bedeuten, dass Mannschaften beim Operieren innerhalb der gegnerischen 10-Yard-Linie in der Hälfte aller Spiele keine Punktgewinne erzielen. Romer plädiert für eine Langzeittaktik – also für eine Gewinnstrategie, die einem wenig risikofreudigen Trainer sehr viel zumutet.
Es gilt aber noch etwas zu bedenken: Selbst wenn das defensive Verhalten angesichts von Fourth-Down-Chancen strategisch kaum sinnvoll scheint – es minimiert immerhin das Risiko, sozusagen ins »offene Messer»zu rennen.
Eine solche Erklärung des Trainerverhaltens gewinnt zusätzlich an Gewicht, wenn man an den Druck denkt, den jede Art von Gemeinschaft auf ihre Mitglieder auszuüben vermag. Was keineswegs heißen soll, dass NFL-Trainer gezwungenermaßen konservativ denken, wohl aber: Wenn alle ihresgleichen ein und derselben Strategie anhängen, macht es Mühe, sich für eine hierzu konträre Strategie zu entscheiden – insbesondere wenn diese taktische Innovation mehr Risiken nach sich zieht, eventuelle Misserfolge öffentlich sind und (wie bei NFL-Trainern) persönliche Konsequenzen zeitigen würden. Unter solchen Umständen ist es nicht nur psychologisch, sondern auch in beruflicher Hinsicht vernünftig, sich der Zustimmung der Massen zu versichern und geringfügige Nachteile in Kauf zu nehmen, statt ein großes Debakel zu riskieren – es handelt sich da um ein
Weitere Kostenlose Bücher