Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
den aktuellen Frontereignissen abgeschnitten; sie können ihre Anweisungen aufgrund laufender Erkenntnisse der verantwortlichen Frontoffiziere erteilen. Als Beispiel sei nur auf die Eroberung Bagdads verwiesen: Als die Frontkommandeure keinen – oder jedenfalls einen sehr geringen – Widerstand meldeten, änderte das US-Oberkommando sofort seine Strategie. Das soll nun keineswegs, wie von manchen Seiten schon gefolgert wurde, heißen, das Militär sei mittlerweise von der Basis her organisiert. Selbstverständlich bleibt für das Militär die traditionelle Befehlskette maßgeblich, so wie auch alle Operationen auf dem Schlachtfeld im Rahmen der so genannten »Pläne des Oberkommandos« stehen, das die Zielvorgabe eines militärischen Einsatzes bestimmt. Doch zunehmend werden erfolgreich Operationen durchgeführt, die auf der Bündelung von Informationen seitens der Frontbeobachtung beruhen.
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Was die Schwierigkeiten der amerikanischen Abwehr- und Nachrichtenkreise vor dem 11. September betrifft, so beruhten diese nicht auf ihrer Dezentralisierung. Zum Problem wurde die Art und Weise ihres dezentralen Operierens. Oberflächlich gesehen hat die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Diensten viel für sich. Spezialisierung ermöglicht eine bessere Feinwahrnehmung von Information und größere Fachkenntnis in der Auswertung. Und nach allem, was wir über Entscheidungsfindung wissen, wird die letztgültige Entscheidung umso besser, je vielfältiger die existierenden Perspektiven sind, unter denen ein Problem betrachtet wird. Genau das betonte der kommissarische Direktor der Defence Intelligence Agency, Lowell Jacoby, in einer schriftlichen Zeugenaussage vor dem Kongress: »Information, die von einer Gruppe Analysten für irrelevant gehalten wird, mag entscheidende Hinweise oder signifikante Einsichten liefern, wenn sie von einer anderen Gruppe unter die Lupe genommen wird.«
Eines aber fehlte dem amerikanischen Geheimdienstwesen: ein echtes Instrument zur Bündelung wie zur Auswertung von Informationen. Mit anderen Worten: Es mangelte an einem Mechanismus, der es ermöglichte, die kollektive Weisheit der Spezialisten von der National Security Agency, der CIA- und der FBI-Agenten anzuzapfen. Weil es zwar Dezentralisation, doch keine Bündelung gab, gab es auch kein organisiertes Vorgehen. Richard Shelbys Vorschlag zur Lösung des Problems – die Gründung einer wirklich zentralen Geheimdienstagentur – würde das organisatorische Dilemma beenden und wenigstens die Zuständigkeit einer Stelle für Information begünstigen. Sie würde allerdings auch alle mit der Dezentralisation einhergehenden Vorteile – Diversität, lokales Wissen und Unabhängigkeit – zunichte machen. In einem Punkt hatte Shelby Recht: Information muss ausgetauscht werden. Nur ging er davon aus, dass es irgendeiner zentralen Person (oder Personengruppe) bedürfe, die die Informationen durchsiebt, um Wichtiges und Unwichtiges voneinander zu trennen – wohingegen das optimale Instrument zum Erkennen der Gesamtbedeutung aller von den verschiedenen Diensten gesammelten Informationen die kollektive Weisheit der Abwehr- und Nachrichtenkreise wäre. Die Antwort auf die Frage lautet nicht: Zentralisierung, sondern: Bündelung.
Nun gab und gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die den Abwehr- und Nachrichtenkreisen zum Aggregieren von Information zur Verfügung stünden, ohne dass es dazu einer konventionell hierarchischen Struktur bedürfte. Zunächst einmal würde schon eine Vernetzung der Datenbanken der verschiedenen Dienste den Informationsfluss erleichtern, ohne dass die Dienste deshalb ihre Selbstständigkeit aufgeben müssten. Es ist schon erstaunlich, dass die Regierung zwei Jahre nach dem 11. September noch immer keine vereinheitlichte »Watch List« auf der Datenbasis aller Dienste besaß. In gewissem Sinne hätten schon ganz einfache, fast mechanische Schritte den Abwehrund Nachrichtenkreisen zu höherer Leistung verholfen.
Zudem standen noch andere, weiter reichende Möglichkeiten offen; einige Geheimdienstler versuchten sie auch zu erkunden. Die wohl wichtigste war das FutureMAP-Programm, ein Plan zur Einrichtung von Entscheidungsmärkten (ähnlich wie bei dem IEM), der es Auswertern der verschiedenen Dienste und Behörden erlaubt hätte, mit Terminkontrakten zu handeln, die auf ihren Erwartungen über mögliche Entwicklungen im Mittleren Osten und anderswo basierten. Das Programm FutureMAP wurde von der Defense Advanced Research
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