Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
drauf sitzt. (In manchen Bereichen – so etwa in einigen Kinos – geht das so weit, dass man einen bereits eingenommenen Platz sogar für kurze Zeit wieder verlassen und dennoch ziemlich sicher sein kann, dass ihn während seiner eigenen Abwesenheit niemand anderer beansprucht.)
Es ist keineswegs die unbedingt beste Art und Weise einer Verteilung von Sitzplätzen. So berücksichtigt sie beispielsweise nicht, wie sehr jemand daran liegt zu sitzen. Sie stellt auch nicht sicher, dass Menschen, die gern nebeneinander sitzen möchten, dies auch tatsächlich können. Und sie nimmt – in ihrer schnellen, harten Form jedenfalls – auch keine Rücksicht auf Alte oder Gebrechliche. (Natürlich kommt es auch vor, dass auf betagte oder kranke Personen Rücksicht genommen wird – aber nur gelegentlich. In der U-Bahn etwa bekommen Ältere hin und wieder einen Platz angeboten, im Kinosaal oder am Strand dagegen wird kaum ein bevorzugter Sitzplatz oder eine besonders schöne Liegestelle für sie geräumt.) Es wäre theoretisch durchaus möglich, dafür zu sorgen, dass unterschiedliche Bedürfnisse beachtet werden. Nur würde eine ideale Sitzplatzanordnung so viel Aufwand verursachen, dass die daraus erwachsenden Unannehmlichkeiten alle Vorteile mehr als aufwiegen würden. Außerdem mag das Prinzip »Den Sitz kriegt derjenige, der zuerst kommt« seine eigenen Vorteile haben. Zunächst einmal ist es problemlos leicht einzuhalten. So muss man etwa bei der Benutzung der U-Bahn keine strategischen Überlegungen anstellen oder sich den Kopf darüber zerbrechen, was andere wünschen und planen. Falls ein Sitz frei ist und man sich setzen möchte, tut man dies eben; sonst steht man. Dergleichen Formen koordinierten Verhaltens werden laufend befolgt, ohne dass es uns überhaupt bewusst wird; sie sind zur Gewohnheit geworden und gestatten, dass man sich auf andere, vermutlich wichtigere Dinge konzentriert. Sie funktionieren zudem ohne äußeren Zwang. Und da in der U-Bahn Leute rein zufällig einund aussteigen, hat letztlich jeder die gleiche Chance, einen Sitzplatz zu finden.
Im Übrigen ist es ja so: Falls Ihnen wirklich sehr daran gelegen ist zu sitzen, können Sie die Konvention umgehen, etwa indem Sie jemanden bitten, Ihnen seinen Platz zu überlassen. Diesbezügliche Reaktionen hat in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Sozialpsychologe Stanley Milgram erforscht. Er forderte die Teilnehmer eines Postgraduiertenseminars auf, mit der U-Bahn zu fahren und sitzende Passagiere höflich, aber bestimmt um ihren Platz zu bitten. Die Studenten reagierten zunächst spöttisch-ablehnend: »Wir sind doch nicht lebensmüde!« Ein Student erklärte sich jedoch bereit, das Versuchskarnickel zu spielen, und erstaunlicherweise räumte, wie er feststellte, die Hälfte der angesprochenen Fahrgäste bereitwillig ihren Platz, obwohl er seine Bitte nicht einmal begründet hatte.
Daraufhin schwärmte ein ganzes Team von Studenten in die U-Bahn aus, Milgram eingeschlossen. Und alle machten die gleiche Erfahrung: Ungefähr die Hälfte der Leute überließ den Studenten ihren Sitz. Die Studenten machten freilich noch eine ganz andere Entdeckung: Der für sie schwierige Teil der Aufgabe bestand keineswegs darin, die sitzenden Personen zum Aufstehen zu bewegen; er lag vielmehr bei ihnen selbst – nämlich darin, überhaupt erst einmal den Mut aufzubringen, die Leute anzusprechen. Wenn sie einem sitzenden Fahrgast gegenübergestanden hätten, so berichteten die Studenten, seien sie jedes Mal ängstlich, nervös und verlegen gewesen. Oft hätten sie es einfach nicht über sich gebracht zu fragen und seien weitergegangen. Milgram beschrieb seine persönliche Erfahrung als »innerlich zerreißend«. Die Norm, dass, wer zuerst kommt, zuerst bedient wird, ist so tief verwurzelt, dass es ihn wie seine Studenten große Mühe kostete, sie zu hinterfragen.
Das Milgram’sche Experiment brachte eine wesentliche Erkenntnis: Normen werden nicht nur durch äußere, objektive Begründungen oder Sanktionen, sondern vor allem durch ihre Verinnerlichung wirksam. Wer in der U-Bahn einen Sitzplatz hat, muss ihn gar nicht mehr verteidigen, ja seinen Anspruch auf seinen Sitzplatz nicht einmal rechtfertigen – weil es einem Stehenden sehr viel schwerer fällt, ihm dieses Recht streitig zu machen.
Für ein reibungsloses Funktionieren von Normen ist also deren Verinnerlichung essentiell; dennoch sind für ihre Durchsetzung oft externe Sanktionen erforderlich. In
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