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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Surowiecki
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manchen Fällen – so etwa im Straßenverkehr – sind solche Sanktionen gesetzlich verankert, im Allgemeinen wirken sie allerdings auf informellere Art, wie Milgram dann beim Beobachten von Leuten entdeckte, die sich in eine lange Warteschlange einzuschleichen versuchten. Milgram hatte seine furchtlosen Studenten wieder einmal in die Welt ausgeschickt, nun mit der Anweisung, sich in abgelegenen Wettsalons und an Kartenschaltern vorzudrängeln. Bei der Hälfte solcher Versuche hatten die Studenten damit keine Probleme. Während U-Bahn-Benutzer, die ihren Sitz räumen sollten, das Ansinnen einfach mit einem »Nein« abtaten oder überhaupt nicht antworteten, fielen die negativen Reaktionen hier allerdings heftiger aus, in zehn Prozent der Fälle sogar unter körperlichem Einsatz, der manchmal so weit ging, dass der Eindringling brüsk beiseite gestoßen wurde. (Meistens blieb es freilich bei einem zurechtweisenden Schulterklopfen oder einem Zerren am Arm.) In etwa einem Viertel der Fälle kam es zu verbalen Protesten, oder man stellte sich dem Vordrängler einfach in den Weg. In 25 Prozent der Fälle erntete der Eindringling lediglich böse und feindselige Blicke.
    Interessanterweise fiel die Aufgabe, mit dem Eindringling fertig zu werden, derjenigen Person zu, vor deren Nase der Drängler sich einzumogeln suchte, obwohl die Nachfolgenden ja ebenso benachteiligt worden wären. Gelegentlich haben Leute zwei oder drei Plätze weiter Einspruch erhoben; eine aktive Abwehr wurde jedoch immer nur von der dem Eindringling nächst stehenden Person erwartet (und nur von der Person gleich hinter dem Eindringling; vor dem Eindringling in der Reihe Stehende reagierten so gut wie nie). Solches Verhalten ging wiederum auf keine förmliche, feste Regel zurück, sondern geschah sozusagen intuitiv; und das scheint durchaus sinnvoll. Denn es war ja nicht nur so, dass das Sich-Einmogeln des Dränglers den unmittelbar dahinter Stehenden am meisten störte; für diesen direkt Betroffenen war es auch am leichtesten, etwas dagegen zu unternehmen, ohne die ganze Warteschlange durcheinander zu bringen.
    Eben diese Sorge um ein Durcheinanderbringen der Reihe erklärt übrigens auch, warum es selbst in New York leichter ist, eine Warteschlange zu unterwandern, als man annehmen würde. Milgram hat es so begründet: Das größte Hemmnis, sich mit einem Vordrängler anzulegen, ist die Angst, dass man seinen eigenen Platz in der Reihe verlieren könnte. Wie die Regel »Wer zuerst kommt, wird zuerst bedient« ist auch die Warteschlange ein simpler, aber wirksamer Koordinationsmechanismus. Sein Funktionieren beruht darauf, dass die Reihenfolge des Anstehens von allen respektiert wird. Genau das aber führt paradoxerweise manchmal dazu, dass man es zulässt, wenn sich jemand vordrängt: Auf diese Weise bleibt nämlich die Schlange insgesamt intakt. Insofern hat Milgram Recht, wenn er die Fähigkeit zum Tolerieren von Vordränglern nicht als Schwäche, sondern gerade als eine Stärke des Schlangestehens wertet.
    Die Warteschlange ist ein hervorragendes Beispiel für die Koordinationsfähigkeit von Individuen, die auf der Suche nach einer Ware oder Dienstleistung eine Menge bilden. Die typische Schlange ordnet sämtliche Wartenden zu einer Reihe; der Vorderste wird zuerst bedient. Die Phalanx dagegen, die häufig in Supermärkten zu beobachten ist – eine Parallelserie von Schlangen, vor jeder Kasse eine -, verursacht prinzipiell Frust. Hier wirken die anderen Schlangen nämlich stets kürzer als die an der Kasse, bei der man selbst ansteht – aus gutem Grund, weil ja allein die Tatsache, dass man hier selber wartet, gerade diese Schlange wahrscheinlich länger macht. Es kommt jedoch noch ein weiterer Aspekt hinzu. Aus unserer Wahrnehmung des Straßenverkehrs ist zu schließen, dass wir relativ unfähig sind, die Geschwindigkeit, mit der sich die eigene Warteschlange voranbewegt, im Vergleich zu den übrigen Reihen richtig zu beurteilen. De Phalanx in Supermärkten vermittelt uns also das Gefühl, für das Tempo, mit dem wir an unserer Kasse vorbeigeschleust werden, selbst verantwortlich zu sein, indem wir den Eindruck gewinnen, dass wir rascher durchkommen würden, wenn wir uns zum Warten in einer der anderen Schlangen entschieden hätten. Eben das verursacht aber (wie es auch bei einem individuellen strategischen Planen zum Ergattern eines Sitzplatzes in der U-Bahn der Fall wäre) eine unverhältnismäßig hohe geistige Beschäftigung. Die einfache

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