Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Technologien – von Handys bis zu Laptops – großen Gruppen eine Kommunikation und Koordinierung ihrer Aktivitäten wesentlich erleichtern.) Zweitens: Die Existenz von Schelling Points lässt vermuten, dass menschliche Wahrnehmungen und Erfahrungen von Realität sich oft in erstaunlichem Maße ähneln, was wiederum eine Koordinierung erfolgversprechender erscheinen lässt. Ohne die Gegebenheit solcher Schelling Points, ohne das Faktum, dass »Grand Central Station« für zwei Menschen in etwa die gleiche Bedeutung hat, wäre es wohl auch kaum möglich, dass sich (wie im Fall von Schellings erstem Experiment) zwei Personen in der Grand Central Station treffen. Ähnlich steht es offenbar mit den Begriffen »Kopf« und »Adler«. Die Realität, die Schellings Studenten miteinander verband, war natürlich eine kulturelle. Würde man Menschen aus der Mandschurei an x-beliebigen unterschiedlichen Stellen in New York City absetzen und auffordern, einander zu finden, käme ein Zusammentreffen wohl nie zustande. Dass die Realität, um die es in diesem Zusammenhang geht, kulturell bedingt ist, mindert aber nicht ihren Realitätswert.
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Koordinierung wird noch auf andere Weise durch Kultur ermöglicht: indem sie nämlich Verhaltensnormen und Konventionen stiftet; manche dieser Normen sind auch explizit und gesetzlich vorgeschrieben. Wir fahren auf der rechten Straßenseite, weil es leichter fällt, eine allgemein gültige Regel zu befolgen, als mit entgegenkommenden Fahrern jedes Mal von Neuem in eine Verhaltensdebatte verwickelt zu werden. Auf einer Kreuzung als Fußgänger von einem anderen Passanten angerempelt zu werden, ist ärgerlich genug, aber harmlos im Vergleich zum Zusammenprall eines Kleinwagens mit einem entgegenkommenden Mercedes. Die meisten Normen und Regeln sind das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung. Verbindliche Verhaltensformen können allerdings auch quasi-spontan entstehen, insbesondere wenn sie der Lösung eines offenkundigen Problems dienen. So erzählt etwa der Journalist Jonathan Rauch folgende Geschichte von einer Erfahrung, die Schelling während seiner Dozententätigkeit in Harvard machte. »Als er vor vielen Jahren in einem Hörsaal im ersten Stock unterrichtete, fiel ihm auf, dass auf den zwei engen Treppengängen – einer lag im vorderen, der andere im hinteren Teil des Gebäudes – während der Vorlesungspause dichtes Gedränge herrschte, weil Studenten sich in beiden Richtungen aneinander vorbeischoben. Eines Tages schlug er deshalb den Studenten seiner Zehn-Uhr-Vorlesung vor, zu Beginn über die vordere Treppe hochzukommen und die Hintertreppe zum Abgang zu benutzen. ›Es dauerte nur etwa drei Tage‹, so berichtete mir Schelling, ›bis auch die Hörer der Neun-Uhr-Vorlesung es als sinnvoll begriffen, stets über die vordere Treppe nach oben zu kommen, und die Hörer der Elf-Uhr-Vorlesung es als vorteilhaft erkannten, anschließend über die hintere Treppe wieder nach unten zu gehen‹, ohne dass sie nach Schellings Wissen von den Studenten der Zehn-Uhr-Vorlesung dazu je instruiert worden wären. ›Ich glaube, meine Studenten haben die praktische Umstellung einfach nur dadurch bewirkt, dass sie den bis dahin üblichen Stau durch ihr abweichendes Verhalten beendeten‹, erzählte Schelling.« Zu solchem Verhaltenswandel hätten die Studenten natürlich auch mittels einer offiziellen Anweisung veranlasst werden können. Sie kamen jedoch schon durch einen sanften Anschubser von sich aus auf die Lösung des Problems.
Dass Konventionen Ordnung schaffen und stabilisieren, liegt auf der Hand. Es ist jedoch nicht minder bedeutsam, dass sie das Ausmaß an geistiger Anstrengung verringern, die jedermann täglich aufzubringen hat. Es ist schließlich Konventionen zu danken, dass wir insbesondere bei Koordinationsproblemen mit gewissen Situationen zurechtkommen, ohne viel nachdenken zu müssen – auf diese Weise können Gruppen unterschiedlicher, miteinander nicht eng verbundener Menschen sich relativ leicht und reibungslos organisieren.
Schauen wir uns doch nur einmal ein Verhalten an, das so elementar erscheint, dass wir es schon gar nicht mehr als konventionsbedingt wahrnehmen. In öffentlichen Räumen herrscht die Regel: Einen guten Platz kriegt, wer zuerst kommt. Ob in der U-Bahn, im Omnibus oder im Kino – allgemeiner Überzeugung zufolge hat sich die Sitzverteilung nach der Reihenfolge des Eintreffens zu richten. Der Platz »gehört« also gewissermaßen demjenigen, der schon
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