Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
zweifellos irrational. Wie das Verhalten der Erwiderer im Ultimatum-Spiel, war die Entrüstung jedoch auch da ein Beispiel für die Forderung nach »starker Reziprozität« – um eine Begriffsbildung der Ökonomen Samuel Bowles und Herbert Gintis zu verwenden -, der eine Bereitschaft entspricht, schlechtes Verhalten zu bestrafen (wie, umgekehrt, gutes Verhalten zu belohnen), auch wenn daraus keine persönlichen materiellen Vorteile erwachsen. Und – ob nun irrational oder nicht – solches Empfinden von der Notwendigkeit einer starken Wechselseitigkeit stellt Bowles und Gintis zufolge ein »prosoziales Verhalten« dar, weil es die Menschen veranlasst, die engen Grenzen des Begriffs »Eigennutz« zu überschreiten und – ganz unabhängig davon, ob dies in bewusster Absicht geschieht – im Sinne eines Gemeinwohls zu denken. Nun ist es keineswegs so, dass die im Bewusstsein einer starken Reziprozität agierenden Personen altruistisch denken und handeln. Wenn sie Niedrigangebote zurückweisen oder Richard Grasso aus Amt und Würden jagen, geschieht es nicht aus schlichter Menschenliebe. Vielmehr lehnen sie Niedrigangebote ab, weil diese ihrem individuellen Verständnis von einem gerechten Leistungs-/Lohnverhältnis zuwiderlaufen. Die Wirkung solchen Empfindens ist allerdings die gleiche, wie wenn sie aus Menschenliebe agierten. Die auf Reziprozität beruhende Aktionsweise funktioniert. Die Angebote im Ultimatum-Spiel sind für gewöhnlich durchaus gerecht – was sie in Anbetracht der anfangs erwähnten bereitgestellten Ressourcen auch sein sollten. Und bei der Bestellung künftiger Geschäftsführer wird die New York Stock Exchange vermutlich strengere Maßstäbe anlegen, was zu verdienen sie wirklich wert sind. Mit anderen Worten: Individuell irrationales Aufbegehren kann zu einem kollektiv rationalen Ergebnis führen.
3
Das Rätsel, zu dessen Lösung der Begriff »prosoziales Verhalten« beitragen könnte, berührt das Geheimnis, warum wir Menschen überhaupt kooperieren. Eine Gesellschaft kann sich unmöglich allein auf Gesetze verlassen, um ein ehrliches und verantwortungsvolles Verhalten der Bürger zu gewährleisten.
Ebenso wenig kann ein Unternehmen ausschließlich auf Verträge bauen, damit die Manager und Angestellten ihren Pflichten nachkommen. Darum stehen alle Beteiligten, als Gruppe, bei kooperativem Zusammengehen besser da, obgleich es jedem Einzelnen für sich genommen selten rational und vernünftig erscheint; denn es muss ihm eigentlich sinnvoller vorkommen, primär die eigenen Interessen zu verfolgen und von den Anstrengungen anderer zu profitieren, die dumm genug sind, kooperativ zu denken und zu handeln. Warum gehen die meisten von uns dann aber nicht so vor?
Die Standarderklärung für menschliches Kooperationsverhalten lieferte der Politologe Robert Axelrod in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: dass Kooperation aus wiederholten Interaktionen mit den immer gleichen Personen resultiert. In seinem Klassiker The Evolution of Cooperation formulierte Axelrod es folgendermaßen: »Das Fundament von Kooperation ist nicht eigentlich Vertrauen, sondern die Haltbarkeit von Beziehungen. Auf die Dauer ist es weniger wichtig, ob die Spieler einander vertrauen oder nicht; entscheidender ist die Frage, ob die Umstände reif dafür sind, dass die Akteure ein stabiles Muster der Kooperation untereinander aufbauen.« Im wiederholten Umgang miteinander erkennen die Menschen mit der Zeit die Vorzüge einer Kooperation, sodass sie einander nicht zu übervorteilen suchen; andernfalls wäre, wie sie sehr wohl wissen, der Geschäftspartner fähig, Strafmaßnahmen in die Wege zu leiten. Der Schlüssel zur Kooperation liegt in dem, was Axelrod als »Schatten der Zukunft« bezeichnete. Es ist die Verheißung einer anhaltenden Kooperation, die uns bei der Stange hält. Laut Axelrod setzen erfolgreiche Kooperationen voraus, dass man zu Beginn nett miteinander umgeht – also Kooperationsbereitschaft zeigt -, allerdings auch willens ist, unkooperatives Verhalten zu bestrafen, sobald es auftritt. Die Zugangsweise zur Kooperation ist, »freundlich, vergebend und vergeltend« zu sein.
Diese Regel scheint absolut vernünftig, und sie stellt vermutlich auch korrekt dar, wie die meisten Menschen in einer gut funktionierenden Gesellschaft mit anderen, ihnen bekannten Personen umgehen. Dennoch ist die Vorstellung, dass Kooperation bloß aus wiederholten Interaktionen zwischen immer gleichen Menschen entsteht,
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