Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
einlassen – ist die dafür zu leistende Arbeit doch nicht schwieriger und die Gurke nicht weniger schmackhaft geworden. (Oder, falls doch, dann bloß aus brennendem Neid auf die Gabe für die Nachbarin.) In diesem Sinne dürfte sich ihre Beurteilung des Handels eigentlich nicht geändert haben. In ähnlicher Weise wird den Erwiderern Geld für ein paar Minuten Arbeit offeriert – für eine Arbeit, die eigentlich bloß darin besteht, mit »Ja« oder »Nein« zu antworten. Umsonst angebotenes Geld zurückzuweisen ergibt unter den meisten Umständen keinen Sinn. Und doch tun Menschen genau das, nur um sicherzustellen, dass die Verteilung der Ressourcen auf faire Weise erfolgt.
Hat dies nun etwa zu bedeuten, dass die Menschen glauben, in einer idealen Welt würden alle gleich reich sein und über die gleichen Geldmengen verfügen können? Nein. Es besagt lediglich Folgendes: Sie sind der Auffassung, dass Menschen in einer idealen Welt das erhalten würden, was sie verdienen. In der ursprünglichen Form des Ultimatum-Spiels bleibt es dem Zufall überlassen, wer von den zwei Personen jeweils Vorgeber und wer Erwiderer wird; darum meinen die Teilnehmer, das Geld müsse einigermaßen gleich verteilt werden. Unter veränderten Spielbedingungen wandelt die Einstellung der Teilnehmer sich jedoch drastisch. In einer besonders interessanten Version des Spiels erweckten die Forscher den Eindruck, dass die Antragsteller diese Funktion einem besseren Abschneiden in einem vorherigen Test zu verdanken hätten, woraufhin die Vorgeber den Erwiderern einen signifikant geringeren Teil des Geldes anboten – diesmal aber wurde nicht ein einziges Niedrigangebot zurückgewiesen. Offenbar hielten es alle für korrekt, dass jemand, der die Position eines Vorgebers verdientermaßen einnahm, dann auch einen größeren Anteil des Geldes verdient hätte.
Vereinfachend gesagt: Menschen (und Kapuzineraffen) wünschen, dass ein plausibles Verhältnis besteht zwischen Leistung und Belohnung. Eben das hat im Fall von Richard Grasso gefehlt. Er bekam für eine zu geringe Leistung einfach zu viel. Grasso scheint durchaus eine gute Arbeit geleistet zu haben. Er war aber nicht unersetzbar; niemand musste sich sorgen, dass die New York Stock Exchange ohne ihn zusammenbräche. Noch gravierender: Der Job war keine Dotierung in Höhe von fast 140 Millionen Dollar wert (welcher Job ist das schon?). Hinsichtlich der Komplexität der Aufgaben wie der dazu notwendigen Erfahrung und Klugheit war er ganz und gar nicht mit der Leitung von Investmentbanken wie Merrill Lynch oder Goldman Sachs vergleichbar. Grassos Gehalt war aber so hoch wie das mancher Spitzenmanager an der Wall Street, die selbst schon enorm überbezahlt sind.
Das tief verwurzelte Verlangen der Menschen nach Fairness beziehungsweise Gerechtigkeit, das Grasso seinen Job kostete, ist ein universales Phänomen. Die konkreten Vorstellungen von Fairness und Gerechtigkeit sind allerdings stark kulturell bedingt. So verdienen Topmanager in den USA bedeutend mehr als in Europa oder Japan; Spitzengehälter für Vorstandsvorsitzende, deretwegen man in Deutschland auf die Barrikaden gehen würde, lösen in den Vereinigten Staaten kaum ein flüchtiges Stirnrunzeln aus. Hohe Einkommen scheinen Amerikaner generell nicht sonderlich zu stören. Obwohl das Einkommensgefälle in keinem Land der hochentwickelten Welt so krass ist wie in den USA, regen sich Amerikaner – so das konstante Resultat von Meinungsumfragen – über solche Art von Ungleichheit viel weniger auf als Europäer. (Eine von den Wirtschaftswissenschaftlern Alberto Alesina, Rafael di Tella und Robert MacCulloch im Jahr 2001 publizierte Studie belegt sogar, dass es in den Vereinigten Staaten vor allem die Reichen sind, die diese Ungleichheit beunruhigt.) Das hat zu einem gewissen Teil damit zu tun, dass Amerikaner Reichtum mehr als Folge von persönlicher Tatkraft und Tüchtigkeit werten, Europäer ihn dagegen eher glücklichen Umständen zuschreiben. Amerikaner nehmen (obwohl dem möglicherweise längst nicht mehr so ist) ihr Land als eine relativ mobile Gesellschaft wahr, die einem Jungen aus der Arbeiterklasse den Aufstieg zum Wohlstand ermöglicht – ein Faktum, das in Bezug auf Richard Grasso von besonderer Ironie scheint: Er war ja ein Arbeiterkind, das zu Reichtum gekommen ist. In puncto Aufstieg zum Wohlstand scheint es also selbst für Amerikaner einen Grenzwert zu geben.
Die Empörung über Richard Grassos Pensionsvergütungen war
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