Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Senderäume gebucht werden. Und lokale Werber setzen nicht minder auf demographische Indikatoren. Auch der Eigentümer eines Fitness-Studios in der Provinz möchte gern wissen, welche Prime-time-TV-Show sich die Achtzehn- bis Vierundzwanzigjährigen in seinem Umkreis anschauen. Das können ihm die »people meters« jedoch nicht verraten.
Die größeren Fernsehsender haben das Problem mithilfe der so genannten »sweeps« zu lösen gesucht, mit einem grobflächigen »Abharken« von Zuschauern. Viermal jährlich – für Februar, Mai, Juli und November – schickt Nielsen 2,5 Millionen Merkbücher (TV-Haushaltsführungshefte) an willkürlich ausgesuchte Personen in nahezu jedem Fernsehmarkt des Landes mit der Bitte, eine Woche lang die jeweils eingeschalteten Programme zu notieren. Über die Personen, die die ausgefüllten Merkbücher zurückschicken, sammelt Nielsen anschließend genauere Informationen, um am Ende eines jeden »Sweep«-Monats ein demographisches Porträt aller TV-Märkte zu erstellen. Die Informationen werden von den lokalen Zweigorganisationen der Sender zum Aushandeln der Werbepreise für die folgenden Monate verwendet.
Das eigentlich Merkwürdige an diesem System ist, dass es sich so lange zu halten vermochte – die »Sweeps«-Methode wurde in der Frühzeit des Fernsehens entwickelt -, obwohl es offensichtliche Mängel aufweist. Je niedriger nämlich bei Zufallserhebungen die Teilnehmerquote, desto höher das Fehlerrisiko, und bei den »sweeps« fällt die Teilnehmerquote sehr niedrig aus: Das erhöht die generelle »Teilnehmerverzerrung« noch: Die sich an der Erhebung beteiligenden Personen schauen nicht unbedingt die gleichen Sendungen an wie die übrigen Zuschauer. Ein zusätzliches Problem entsteht durch den technologisch veralteten Charakter der Merkbücher: Die Leute nehmen ihre Eintragungen ja nicht während des Zuschauens vor. Wie die meisten von uns neigen aber auch sie dazu, die Dinge hinauszuschieben, also die Hefte erst am Wochenende auszufüllen: Was sie dann notieren, entspricht ihrem Erinnerungsstand, der möglicherweise mit den tatsächlich beobachteten Sendungen nicht übereinstimmt. Und schließlich hinterlassen Spitzensendungen einen stärkeren Eindruck: Insofern neigt das Merkbuch-System zur Überbewertung der Programme großer Sendeanstalten, während die Einschaltquoten von Programmen kleiner Kabel-TV-Anbieter dementsprechend unterschätzt werden. Im Übrigen sind die Merkbücher kaum zu einer Berücksichtigung der rastlosen Sehgepflogenheiten von Zappern geeignet.
Doch selbst wenn die Eintragungen in den Merkbüchern exakt wären, vermöchten sie den Werbeleuten oder den Sendeanstalten überhaupt nicht zur Kenntnis zu bringen, was die Leute die meiste Zeit über im Fernsehen wirklich anschauen. In den »Sweeps«-Monaten sind nämlich die Fernsehprogramme von gänzlich anderer Qualität als in der restlichen Zeit des Jahres. Weil für die Zweigorganisationen der großen Fernsehgesellschaften wirtschaftlich so viel von den »Sweeps«-Erhebungen abhängt, suchen die Marktführer für diese Zeitspannen Zuflucht in Tricks, das heißt, sie sehen sich zu »Sensations«-Programmen genötigt – zu Programmen mit einmalig ausgestrahlten Specials, teuer eingekauften Topfilmen und Talkshows mit hochkarätigen Studiogästen. So wurde beispielsweise der Februar 2003 im Privatfernsehen zu einem Michael-Jackson-Monat: Die Sender ABC, NBC und Fox gaben Millionen Dollar für Shows über den exzentrischen Popstar aus. Derselbe Monate brachte im Fernsehen die (zumindest von einem Teil des Publikums) lang erwarteten Höhepunkte der (alles andere als) Reality-TV-Sagas The Bachelorette und Joe Millionaire . In den »Sweep«-Monaten dürfen die Sender nur neue Folgen ihrer besten Shows ausstrahlen, und Wiederholungssendungen sind nicht erlaubt.
Solches Sensationsprogrammieren des amerikanischen Fernsehens schadet nahezu allen: der Werbeindustrie und den Sendeanstalten ebenso wie den Zuschauern. Die Werber haben aufgrund der hohen Einschaltquoten solcher Programme entsprechend hohe Preise zu entrichten. Der Mediendirektor der Werbeagentur Saatchi & Saatchi (Nordamerika), Allen Banks, geißelte die »sweeps« als »einen Betrug, ein Täuschungsmanöver«: »Das Bild, das sie [von den Zuschauergewohnheiten] vermitteln, ist für den Rest des Jahres alles andere als typisch.« Manche Werber versuchen, den Sondereffekt der »sweeps« beim Einkauf von Werbezeit herauszurechnen; da die »sweeps«
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