Die Weisheit des friedvollen Kriegers
Wer – möglicherweise aufgrund genetischer Veranlagung – zu körperlicher Abhängigkeit neigt, nach einem Glas Bier also automatisch zum nächsten greift, wie es bei manchen Alkoholikern der Fall ist –, sollte am besten ganz verzichten. Es gibt also keine Regel, die für jeden Einzelnen Gültigkeit hat.
Ewig den Puritaner oder aber auch den notorischen Hedonisten zu geben ist im Grunde viel zu einfach. Socrates brillierte in beiden Rollen, ganz nach Gutdünken. Meistens jedoch hielt er die Balance zwischen Zügellosigkeit und Selbstverleugnung.
Mäßigkeit und Leidenschaft
» Besser, du machst mit der vollen Kraft deines Seins einen Fehler, als dass du mit verzagendem Mut jeden Fehler vermeiden willst. Verantwortung heißt, das Vergnügen zu erkennen und auch seinen Preis. Verantwortung heißt, aufgrund dieser Einsicht eine Entscheidung zu treffen, und mit dieser Entscheidung leben – ohne Reue.
»Typische Entweder-Oder-Philosophie«, warf ich ein. »Und wie steht es mit der Mäßigkeit?«
»Mäßigkeit?« Er sprang auf den Schreibtisch. »Mäßigkeit ist Mittelmäßigkeit im Gewande von Klugheit und Vernunft. Sie ist der vernünftige Kompromiss des Teufels, der niemanden glücklich macht. Mäßigkeit ist etwas für die Lauen, für die Schuldbewussten, für die Zaungäste dieser Welt, die keinen Mut zum eigenen Standpunkt haben. Sie ist etwas für Leute,
die nicht den Mut haben zu lachen oder zu weinen, die nicht den Mut haben zu leben oder zu sterben. Mäßigkeit« – er richtete sich auf und holte zum letzten Vernichtungsschlag aus – »ist wie lauwarmer Tee, des Teufels eigenes Gebräu!« »Deine Predigten, Soc«, lachte ich, »kommen daher wie ein Löwe und enden kläglich wie ein Lämmchen. Du solltest mehr üben.«
Schulterzuckend stieg er von seinem Schreibtisch herab. »Das haben sie mir auch im Seminar gesagt.«
Eine weitere paradoxe Passage in dem Buch. Es geht um Socs augenscheinliche Verachtung der Mäßigkeit. Seit jeher empfehlen die Weisen der verschiedenen Kulturen, von den Taoisten Chuang Tzu und Lao Tzu bis hin zu den griechischen und römischen Philosophen den Weg der Ausgeglichenheit und Mäßigkeit. In der Politik werden die Sprecher der Mitte in aller Regel für glaubwürdiger gehalten als die extremen Linken oder Rechten (von den Fundamentalisten selbst einmal abgesehen).
Im Alltag stimmen wir überein, dass weder zu schnelles noch zu langsames Essen oder zu lautes beziehungsweise zu leises Sprechen besonders gut ist. Ebenso wenig würden wir uns zu schnell oder zu langsam bewegen wollen. Das Märchen von Goldlöckchen und den drei Bären bringt diese Weisheit gut zum Ausdruck – nicht zuletzt deshalb ist es seit Generationen so beliebt.
Socrates führte ein sehr ausgeglichenes Leben. Sein Gefühl für Entspannung und Wohlbehagen, die Art, wie er sprach oder sich bewegte – all das drückte Mäßigung aus. Er konnte aber auch überaus leidenschaftlich sein und sich wieselflink bewegen, wenn ihm danach
war, oder die Extreme ausloten, sofern es seinen Lehrzwecken diente.
Socs kleine Tirade gegen die Mäßigkeit richtete sich im Grunde an alle, die Angst haben, auch einmal Leidenschaft zu zeigen, ihre Meinung zu sagen, dramatisch aufzutreten, ihre Grenzen zu überschreiten und ihre persönliche Komfortzone zu verlassen. Bei solchen schüchternen Seelchen kann ein »moderates« Leben in behagliches auf der Stelle Treten abgleiten, das sie von jeglicher Aufregung und jedem Abenteuer abhält. Solche Leute sind Warmduscher, die abends immer zur selben Zeit – bloß nicht zu spät! – ins Bett gehen und schon gar nicht mehr wissen, wie es ist, auch einmal die Nacht durchzumachen beziehungsweise schon am Nachmittag mit einem guten Buch oder einem geliebten Menschen in die Federn zu steigen.
Socrates predigte keinen wilden oder verrückten Lebensstil. Er setzte sich aber vehement dafür ein, die Routine zu durchbrechen – flexibel, unvernünftig und von Kopf bis Fuß lebendig zu sein.
Ein begnadeter Augenblick
Auf dem Heimweg war ich so überwältigt von Dankbarkeit, dass ich mich hinknien musste – und die Erde streicheln. Ich hob eine Handvoll Staub auf und richtete den Blick empor zum smaragdgrün leuchtenden Laub der Alleebäume. Einen wunderbaren Moment lang schien ich wie mit der Erde verwachsen. Und dann spürte ich – zum ersten Mal seit Kindertagen – die An wesenheit jener Leben spendenden Macht ohne Namen.
In diesem Moment hielt ich Zwiesprache mit einer
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