Die weiße Frau von Devils Rock
Sein Blick wirkte verklärt, als könnte er etwas anderes sehen als die Menschen um ihn herum.
Christina verstand nicht, doch sie fragte auch nicht. Hilfe suchend schaute sie zu ihrer Mutter, die versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen, die sie plötzlich hatte.
"Wer sind Sie?", fragte sie und stellte sich neben ihre Tochter. "Sie dringen einfach bei uns ein und erzählen Dinge, die keiner von uns versteht. Bitte sagen Sie deutlich, was Sie möchten, und dann gehen Sie wieder."
Der Fremde lächelte noch immer. "Das habe ich doch", sagte er.
"Ich würde vorschlagen, Sie kommen heute am späten Nachmittag wieder. Da ist mein Mann zurück, er kann Ihnen sicher besser sagen, was Sie wissen möchten." Verzweifelt suchte Charlene nach einem Ausweg, denn die Anwesenheit dieses Fremden war ihr höchst unangenehm.
"Ich möchte nichts wissen", widersprach der Mann überaus freundlich und zuvorkommen. "Ich weiß doch schon alles, habe ich das noch nicht gesagt?"
"Warum sind Sie dann hier?" Jetzt verstand die Frau schon gar nichts mehr.
"Weil sie es gesagt hat'", beharrte der Alte. Dann ging er zu einem Stuhl. "Darf ich mich hinsetzen?"
"Wir sind in Eile", versicherte Charlene und blieb wie angewurzelt stehen. "Besser, Sie gehen jetzt und kommen ein andermal wieder.
Der Alte nickte, ging mit müden Schritten an Christina und ihrer Mutter vorbei zur Tür. "Wir sehen uns noch einmal", sagte er leise. Und dann, zu dem Mädchen gewandt: "Die Frau, die dir das Buch gegeben hat, war deine Großmutter, meine Schwester. Unsere Urgroßmutter Thissa war die Tochter der Frau, die einmal hier gelebt hat."
"Die Tochter von Peter Barrymore?", fragte Charlene entgeistert.
Der Alte nickte. "Verstehen Sie jetzt, warum ich kommen musste? Meine Nichte, die Tochter meiner Schwester und ihres Mannes Charles, heiratete einen Seemann, doch die Ehe war keine Ehe. Sie bekam ein Kind und starb wenig später. Ihr Mann blieb irgendwann auf See, genau wie Charles, mein Schwager. Ich hatte nie geheiratet und so zog ich zu meiner Schwester und ihrem Kind, um beiden zu helfen. Dieses Mädchen, das bei uns gelebt hat, war unser Sonnenschein."
"Setzen Sie sich bitte." Charlene war wie in Trance. Plötzlich schienen viele Antworten auf viele ihrer Fragen in greifbare Nähe gerückt zu sein.
Der Mann kam ihrer Aufforderung fast sofort nach. Man sah ihm an, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. "Kann ich etwas Wasser bekommen?"
Christina ging sofort, das Gewünschte zu holen. Sie merkte, dass der Fremde, der ihr Großonkel sein sollte, nicht wollte, dass sie beim Rest der Geschichte anwesend war.
"Was war mit Ihrer Tochter?"
"Sie wurde schwanger durch eine Vergew altigung. Es war ein Stevenson, einer aus dem verarmten Zweig, der in Lairg lebt."
"Und was geschah weiter mit Ihrer … mit dem Mädchen? Soweit ich inzwischen erfahren habe, ist die Familie der Stevensons nicht gerade arm. Sie hätten zumindest für das Kind aufkommen müssen."
"Jeanny hat niemandem davon erzählt, nur diesem Tagebuch." Er deutete auf das alte Buch, das nun wieder auf dem Tisch lag.
"Ich habe aber keine neueren Aufschriebe gefunden. Soweit ich gesehen habe enden sie an der Stelle, an der Serena beschlossen hat, ihrem Mann von dem Kind zu erzählen, das sie von Laird Andrew erwartete."
Umständlich holte der alte Mann eine graue Mappe aus seiner inneren Jackentasche. Sie war ziemlich dick. "Das sind die restlichen Seiten", sagte er leise. "Jeanny hat sie herausgerissen und versteckt. Sie hat die Tradition pflichtbewusst fortgesetzt und alles aufgeschrieben. Doch dann sah sie keinen Ausweg mehr."
"Wie meinen Sie das?"
"Niemand sollte erfahren, was passiert ist. Wir wussten ja auch nichts von ihrer Schwangerschaft. Sie hat es uns so lang wie möglich verheimlicht. Dann ging sie weg, einfach so, bei Nacht und Nebel. Wir suchten sie, aber sie hat keine Spuren hinterlassen. Auch dieses Buch war verschwunden."
"Und die Polizei?"
Im Gesicht des Alten arbeitete es. Immer wieder musste er mit den Tränen kämpfen. "Wir haben keine Polizei verständigt. Wozu auch? Jeanny war vierundzwanzig und erwachsen. Wir wussten ja, dass sie nichts ohne Grund tat. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte dann hatte sie vorher immer lange genug darüber nachgedacht."
"Dann ist Christina…" Charlene wagte nicht, den Gedanken, der ihr eben durch den Kopf
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