Die weiße Garde
bogen in die Wladimirstraße ein und erreichten ein einstöckiges Häuschen mit einem Schild »Kolonialwaren«. Daneben hing ein anderes: »Weinkeller – Schloß Tamara.« Die beiden tauchten die Stufen hinunter und klopften vorsichtig an die verglaste Doppeltür.
17
Das Ziel, das Nikolka in den letzten drei Tagen verfolgt hatte, während die Ereignisse die Familie wie mit Steinen trafen, das Ziel, das mit den geheimnisvollen letzten Worten des auf dem Schnee Hingestreckten zusammenhing, dieses Ziel hatte Nikolka erreicht. Dafür aber hatte er den ganzen Tag vor der Parade her durch die Stadt laufen und nicht weniger als neun Adressen aufsuchen müssen. Viele Male während der Lauferei hatte er den Mut verloren und wiedergefunden und endlich doch erreicht, was er wollte.
Ganz am Rande der Stadt, in der Litowskaja-Straße, fand er in einem Häuschen einen Bataillonskameraden und erfuhr von ihm Nai-Turs’ Adresse, Vor- und Vatersnamen.
Zwei Stunden lang kämpfte er gegen die stürmische Welle des Volkes, um den Sophienplatz zu überqueren. Aber es war einfach unmöglich! Dann verlor der durchfrorene Nikolka wieder eine halbe Stunde, um sich aus der Umklammerung zu befreien und zum Ausgangspunkt – dem Michail-Kloster – zurückzukehren. Von dort aus versuchte er, sich auf einem großen Umweg durch die Kostelnaja-Straße zum Krestschatik durchzuschlagen, um auf weiteren Umwegen die Malo-Prowalnaja-Straße zu erreichen. Aber auch das war unmöglich! Durch die Kostelnaja zog, wie überall, eine Riesenschlange Truppen hinauf zur Parade. Da machte er einen noch größeren Umweg über den menschenleeren Wladimir-Hügel. Er lief über Terrassen und Alleen, an weißen Schneewänden vorbei. Stellenweise lag der Schnee nicht so hoch. Von den Terrassen aus sah Nikolka den im Schneemeer versunkenen Zarengarten auf den Bergen gegenüber, und weiter links, jenseits des Dnepr, der weiß und würdig in seinen Eisufern lag, dehnten sich die im Winterschlaf versunkenen endlosen Tschernigower Weiten.
Alles sah friedlich und ruhig aus, aber dafür hatte Nikolka jetzt keinen Sinn. Er kämpfte gegen den Schnee, bezwang eine Terrasse nach der anderen und wunderte sich manchmal über vereinzelte Fußspuren – also war auch im Winter jemand über den Hügel gelaufen.
Endlich war Nikolka unten angelangt, atmete erleichtert auf, als er sah, daß auf dem Krestschatik keine Truppen waren, und schlug die Richtung zum gesuchten Ziel ein. Malo-Prowalnaja-Straße 21, so lautete die Adresse, und obwohl er sie nicht aufgeschrieben hatte, saß sie fest in seinem Gedächtnis.
Nikolka war aufgeregt und unsicher. Bei wem sollte er sich genauer erkundigen und wie? Er hatte keine Ahnung. Er klingelte an der Tür eines Seitenflügels auf der ersten Gartenterrasse. Lange rührte sich nichts, dann schließlich ertönten schlurfende Schritte, und die mit einer Kette gesicherte Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Ein Frauengesicht mit einem Kneifer auf der Nase sah heraus und fragte streng aus der Dunkelheit der Diele:
»Was wünschen Sie?«
»Erlauben Sie die Frage: Wohnt hier Familie Nai-Turs?«
Das Frauengesicht wurde vollends mürrisch, die Gläser blitzten.
»Hier wohnen keine Turs«, sagte sie mit tiefer Stimme.
Nikolka errötete, wurde verlegen und traurig.
»Ist das Wohnung fünf?«
»Ja doch«, antwortete die Frau unwillig und mißtrauisch. »Sagen Sie, was Sie wollen.«
»Man hat mir gesagt, hier wohnt Familie Nai-Turs.«
Das Gesicht kam etwas näher heran, der Blick huschte über den Garten, ob nicht hinter Nikolka jemand stünde. Dabei konnte Nikolka das Doppelkinn der Dame sehen.
»Was wollen Sie? Sagen Sie es mir.«
Nikolka seufzte, sah sich um und sagte:
»Ich bin wegen Felix Felixowitsch gekommen. Ich habe eine Nachricht.«
Sofort veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie klapperte mit den Augen und fragte:
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Student.«
»Warten Sie einen Augenblick.« Die Tür wurde zugeschlagen, die Schritte verhallten.
Gleich darauf klapperten hinter der Tür Absätze, die Tür wurde geöffnet und Nikolka hereingelassen. Aus dem Wohnzimmer fiel Licht in die Diele, Nikolka sah einen flauschigen Sessel und die Dame mit dem Kneifer. Er nahm die Mütze ab, und im gleichen Moment erschien vor ihm eine kleine, hagere Frau mit den Spuren verwelkter Schönheit im Gesicht. An irgendwelchen unbestimmten Zügen – Schläfen oder Haarfarbe – erkannte Nikolka, daß er Nais Mutter vor sich hatte, und erschauerte:
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