Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
Vom Netzwerk:
nieder. Dort waren die Lichter schon längst erloschen. Alles schlief. Nur an der Ecke der Wolynskaja-Straße brannte in einem zweistöckigen Steinhaus in der Wohnung des Bibliothekars noch Licht. Dort saß in einem kleinen Raum, der wie ein billiges Hotelzimmer aussah, im Licht der Lampe mit gläsernem Buckel der blauäugige Russakow. Vor ihm lag ein schweres Buch in gelbem Ledereinband. Die Augen folgten den Zeilen langsam und feierlich.
    »Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan, und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken.
    Und das Meer gab die Toten, die darin waren; und der Tod und die Hölle gaben die Toten, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach seinen Werken.

    Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl. Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr.«
    Je weiter Russakow das erschütternde Buch las, desto heller wurde sein Verstand; er glich einem funkelnden Schwert, das die Finsternis durchdrang.
    Qualen und Krankheiten kamen ihm unwichtig, unwesentlich vor. Sein Leiden fiel von ihm ab wie Borke von einem vergessenen dürren Zweig im Wald. Er sah die blaue, bodenlose Dunkelheit der Jahrhunderte, den Korridor der Jahrtausende. Er verspürte keine Angst, nur weise Demut und Ehrfurcht. Frieden legte sich auf seine Seele, und in Frieden kam er zu den Worten:
    »… alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.«

    Der dunkle Schleier teilt sich und läßt den Leutnant Scherwinski zu Jelena ein. Seine vorstehenden Augen lächeln dreist.
    »Ich bin ein Dämon«, sagt er und knallt die Hacken zusammen. »Er aber, Talberg, kommt nicht wieder, und ich singe für Sie.«
    Aus der Tasche holt er einen großen Flitterstern und befestigt ihn links an der Brust. Der Nebel des Traums umschwebt ihn, und sein Gesicht tritt aus den Schwaden wie ein Puppengesicht. Er singt schrill, nicht so wie in Wirklichkeit.
    »Wir werden leben!«
    »Und wenn der Tod kommt, müssen wir sterben«, singt Nikolka und tritt ein.
    Er trägt die Gitarre im Arm, sein Hals aber ist blutig, und um seine Stirn liegt ein gelbes Kränzchen mit kleinen Ikonen. Jelena durchzuckt der Gedanke, daß er sterben wird, sie schluchzt bitterlich, schrie auf und wurde wach.
    »Nikolka, o Nikolka!«
    Noch lange schluchzte sie und lauschte dem Murmeln der Nacht.
    Und die Nacht schwebte immer weiter.

    Und endlich hatte auch Petka Stscheglow im Seitenflügel einen Traum.
    Petka war noch klein, deshalb interessierte er sich weder für die Bolschewiken noch für Petljura oder den Dämon. Sein Traum war einfach und fröhlich wie der Sonnenball.
    Petka geht über eine große grüne Wiese, und auf dieser Wiese liegt eine glitzernde diamantene Kugel, größer als Petka selbst. Erwachsene kleben im Traum an der Erde, wenn sie fliehen wollen, sie stöhnen, wälzen sich und suchen die Füße aus dem Morast zu reißen. Kinderbeine aber sind flink und frei. Petka läuft zu der diamantenen Kugel und hebt sie fröhlich lachend auf. Die Kugel zerfällt in Tausende funkelnder Tröpfchen, die auf ihn niedersprühen. Das war Petkas ganzer Traum. Vor Vergnügen lachte er mitten in der Nacht laut auf. Hinter dem Ofen zirpte vergnügt das Heimchen für ihn. Petka träumte andere Träume – leicht und fröhlich, und das Heimchen zirpte und zirpte irgendwo in einer Ritze, in der weißen Ecke hinter dem Eimer sein Lied und belebte die schlaftrunkene, murmelnde Nacht der Familie.
    Die letzte Nacht war erblüht. In ihrer zweiten Hälfte bedeckte sich Gottes schwerer blauer Vorhang, der die Welt umspannt, mit Sternen. Es sah so aus, als würde hinter diesem Vorhang an einem unermeßlich hohen Altar eine Abendmesse gelesen. Lichtchen wurden entzündet, und sie zeichneten sich als Kreuze, Büsche und Quadrate auf dem Vorhang ab. Über dem Dnepr ragte das mitternächtliche Wladimir-Kreuz von der sündigen, blutüberströmten und verschneiten Erde in die düstere Höhe. Von weitem schien es, als wäre der Querbalken verschwunden und mit dem senkrechten Balken verschmolzen und als hätte sich das Kreuz in ein drohendes scharfes Schwert verwandelt.
    Aber man braucht es

Weitere Kostenlose Bücher