Die weiße Garde
nicht zu fürchten. Alles wird vorübergehen: Leiden, Qualen, Hunger, Blut und Massensterben. Das Schwert wird verschwinden, aber die Sterne werden auch dann noch da sein, wenn von unseren Leibern und Taten auf Erden kein Schatten mehr übrig ist. Es gibt keinen Menschen, der dies nicht wüßte. Warum also wollen wir unseren Blick nicht zu den Sternen erheben? Warum?
1923–1924
Moskau
Urfassung der Kapitel 19 bis 21
19
»Mach einen Diener und sag dem Onkel: guten Tag, Onkel«, sagte Jelena vorgebeugt.
»Gutag, Onkel«, sagte Petja Stscheglow unsicher zu Myschlajewski und holte tief Luft.
»Guten Tag«, antwortete Myschlajewski finster, dann schielte er abwärts und fügte hinzu: »Nach deinem Gesicht zu urteilen bist du ein großer Wildfang.«
Petja griff sogleich nach Jelenas Rock, schnaufte, schob die Lippen vor und guckte böse.
»Du Tölpel, du langer Tölpel, warum neckst du das Kind?«
»Warum neckst du?« sagte auch Petja feindselig.
Scherwinski, Karausche und Jelena lachten, doch Petja versteckte sich hinter dem Rock, so daß nur sein linkes Bein mit dem stumpfen Schuh und dem festtäglichen lila Hosenbein hervorschaute.
»Hör nicht auf die, hör nicht auf die, Kleiner, sie sind nicht gut«, sagte Jelena und zog Petja aus ihren Rockfalten heraus, »schau auf die Tanne, sieh mal, die Lichter.«
Petja kam aus dem Rock hervor, seine Augen richteten sich auf die kleinen Lichter. Von ihnen blitzte und schimmerte das ganze Wohnzimmer, es duftete nach Wald, der Baum glitzerte.
»Gebt ihm eine Apfelsine«, sagte Myschlajewski gerührt.
»Später«, bestimmte Jelena, »jetzt laß uns tanzen. Alle. Du magst doch tanzen? Na gut.«
Die Portiere bewegte sich, und Turbin kam herein. Er trug einen Smoking, der die große weiße Brust zeigte, darauf schwarze Kragenknöpfe. Sein Kopf, der während des Typhus kahlgeschoren worden war, zeigte wieder ersten Haarwuchs, das glatt rasierte Gesicht war zitronengelb, er stützte sich auf einen Stock. Der Glanz in seinen Augen verstärkte sich durch die brennenden Lichter. Nach Turbin kam Lariossik herein, gleichfalls im Smoking. Wo mochte er den beschafft haben? Alle wußten, daß er dieses Kleidungsstück nicht in seinem Gepäck gehabt hatte. Wie ein großes Kumt saß auf seinem Hals ein gestärkter Kragen mit einer zur Fliege gebundenen schwarzen Schleife, aus den Ärmeln schauten harte Manschetten mit Manschettenknöpfen in Form eines Pferdekopfes nebst Reitpeitsche. Lariossik war zwei Tage lang durch die STADT gesaust und hatte den Smoking irgendwo aufgetrieben, er wußte, daß dies eine Frage des Prinzips war. Petljura war eine Kanaille. Aber selbst wenn es zehn Petljuras in der STADT gegeben hätte, hier, in den vier Wänden von Anna Wladimirowna, hatte er nichts zu sagen. Wenn auch die Wände noch nach Formalin rochen, wenn auch wegen dieses verdammten Formalins die erste Weihnachtsfeier verdorben war, die zweite und letzte am heutigen Dreikönigstag würde nicht scheitern. Sie würde sein, sie war, und Turbin war gestern mit gelbem Gesicht aufgestanden. Seine Wunde verheilte wunderbar. Übernatürlich. Das hatte selbst Jantschewski gesagt, und er, der auf seinem Lebensweg schon alles gesehen hatte, wußte, daß es Übernatürliches im Leben nicht gab. Denn alles im Leben war übernatürlich.
Der Smoking stand Myschlajewski, wie er nicht jedem steht. Man begriff nicht recht, woran das lag. Er war nicht neu, das Plastron nicht erstklassig, dennoch paßte alles irgendwie zusammen. Wahrscheinlich war die Hose erstklassig. Lariossik zum Beispiel hatte es nicht leicht mit dem Smoking, sein Gesichtsausdruck paßte kaum dazu, und es schien die ganze Zeit, als würden sich die Hosenträger im Westenausschnitt zeigen. Myschlajewski dagegen bewegte sich ungezwungen, schwungvoll, zeigte keinen Gesichtsausdruck, und doch hätte man Filmaufnahmen mit ihm machen können. Nur eines verdarb den Eindruck: ein für Myschlajewski nicht typischer Gedanke, noch dazu ein sorgenvoller. Er legte sich in drei Falten auf seine Patrizierstirn und zeigte sich in den unruhigen Augen. Und so lebte Myschlajewski bald auf, bald verfinsterte er sich und grübelte. Worüber, wußte man nicht. Jedenfalls, als Nikolka auf dem Ofen im Eßzimmer mit chinesischer Tusche eine neue zeitgemäße Inschrift anbrachte:
»Oberleutnant Myschlajewski hat am Heiligabend 1919 versucht, ein Kind zu erziehen. Er ist ein guter Familienvater.«,
gefiel ihm diese Inschrift nicht. Seine Stirn umwölkte sich,
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