Die weiße Garde
liegenlassen.«
Da waren ihre Augen näher bei seinen, und er konnte sich überzeugen, daß darin nicht nur das Schwarz der Sternennacht und die sich bereits mildernde Trauer um den Oberst waren, sondern auch Verschmitztheit und Lachen. Sie griff mit der rechten Hand nach seiner Rechten, zog sie durch ihren linken Arm und schob sie in ihren Muff neben die ihrige. Dann sprach sie rätselhafte Worte, über die Nikolka während der ganzen zwölf Minuten bis zur Malo-Prowalnaja-Straße nachdenken mußte:
»Sie müssen geschickter sein.«
Königin … Worauf kann ich hoffen? Meine Zukunft ist dunkel und aussichtslos. Ich bin ungeschickt. Mit dem Studium habe ich noch nicht einmal angefangen … Diese Schönheit, dachte Nikolka. Dabei war Irina Nai gar keine Schönheit. Sie war ein gewöhnliches hübsches Mädchen mit schwarzen Augen. Allerdings war sie gut gewachsen, ihr Mund war nicht häßlich, sehr regelmäßig, und das Haar schwarz und glänzend.
Vor dem Häuschen auf der ersten Terrasse des geheimnisvollen Gartens, vor der dunklen Tür blieben sie stehen. Der Mond hinter dem Geflecht der Bäume sah wie ein Schnitzwerk aus, und der Schnee war fleckig, bald schwarz, bald weiß, bald violett. Die Fenster des Häuschens waren dunkel bis auf eines, aus dem gemütliches Licht schimmerte. Irina lehnte sich an die schwarze Tür, legte den Kopf zurück und sah Nikolka an, als ob sie auf etwas wartete. Nikolka war verzweifelt, daß er, so was Dummes, ihr zwanzig Minuten lang nichts hatte sagen können, verzweifelt, daß sie jetzt von ihm weg durch diese Tür gehen würde, wo sich in seinem untauglichen Kopf eben wichtige Worte zusammenfügten, da wurde er tollkühn, fuhr mit der Hand in den Muff, suchte die andere Hand und merkte zu seiner größten Verblüffung, daß diese Hand, die den ganzen Weg über im Handschuh gesteckt hatte, jetzt ohne Handschuh war. Ringsum völlige Stille. Die STADT schlief.
»Gehen Sie«, sagte Irina Nai sehr leise, »gehen Sie, sonst werden Sie noch von den Petljura-Leuten verhaftet.«
»Und wennschon«, antwortete Nikolka aufrichtig. »Und wennschon.«
»Nein, so nicht.« Sie schwieg. »Das würde mir leid tun …«
»Leid tun? Wirklich?« Er drückte die Hand im Muff stärker.
Da befreite Irina ihre Hand und legte sie ihm mitsamt dem Muff auf die Schulter. Ihre Augen wurden sehr groß, wie schwarze Blumen, so empfand es Nikolka. Sie rüttelte ihn so, daß seine Adlerknöpfe den Samt ihres Pelzes berührten, holte tief Luft und küßte ihn auf den Mund.
»Sie sind vielleicht tapfer, aber ein bißchen schwerfällig.«
Da spürte Nikolka, daß er auf einmal irrsinnig tapfer, verwegen und gar nicht schwerfällig war, er umfaßte Irina und küßte sie auf den Mund. Ihre rechte Hand griff listig nach hinten, und sie läutete, ohne die Augen zu öffnen. Sogleich waren Schritte und das Husten der Mutter zu hören. Nikolka ließ sie los.
»Kommen Sie morgen abend«, flüsterte sie. »Und jetzt gehen Sie bitte.«
Durch die menschenleeren Straßen ging Nikolka mit knirschenden Schritten zurück, aus irgendwelchen Gründen nicht auf dem Gehsteig, sondern auf der Fahrbahn bei den Straßenbahnschienen. Er ging wie betrunken, hatte den Mantel aufgeknöpft, die Mütze nach hinten geschoben und spürte, wie der Frost seine Ohren zwickte. In seinem Kopf und in seinem Mund summte die fröhliche Musik der Rhapsodie, und die Beine gingen ganz von selbst. Die STADT war weiß, geblendet vom Mond, und am Himmel prangte die Unmasse von Sternen. Kein Teufel wäre imstande, sie zu zählen. Es besteht auch keine Notwendigkeit, sie zu zählen und beim Namen zu kennen. Unter ihnen sitzt wohl ganz allein die abendliche Hirtenvenus, und dann glitzert noch der irrsinnig ferne, bösartige rote Mars.
Alexej Turbins Wunde verheilte auf übernatürliche Weise. Die runden Löcher eiterten nicht mehr. Dann begannen sie sich zu schließen. Turbin trug nicht mehr aufgeschnittene Hemden, der Verband verkleinerte sich, und am 24. Januar stieg Nikolka die Treppe hinunter, ging an den Türen vorbei und nahm den Aufkleber vom Schild ab. Das Schild blickte wieder in Gottes Welt. An einem klaren milchweißen Januartag brannte in Turbins Sprechzimmer mit zottiger blauer Flamme der Primuskocher, Turbin wirtschaftete in dem weißen Raum, klirrte mit Instrumenten, untersuchte Fläschchen, stellte sie wieder hin. Der Abend dieses Tages verlief still und friedlich, kein Patient kam. Turbin ging im Wohnzimmer auf und ab, sah häufig
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