Die weiße Garde
hatte, erschrak vor ihrer Einsamkeit und wünschte, daß er in diesem Augenblick bei ihr wäre. Ohne Achtung, ohne das Wichtigste, aber er sollte jetzt hier sein. Er ist weg. Die Brüder haben ihn zum Abschied geküßt. Mußte das sein? Doch was sage ich? Was hätten sie denn tun sollen? Ihn zurückhalten? Auf keinen Fall. Lieber soll er in diesem schweren Augenblick nicht hier sein, nur nicht zurückhalten. Um keinen Preis. Soll er fahren. Sie haben ihn zwar geküßt, aber eigentlich hassen sie ihn. Jawohl. Immer wieder versucht man, sich zu täuschen, aber wenn man genau überlegt, ist es klar: sie hassen ihn. Nikolka ist noch etwas gutmütiger, aber der Ältere … Nein, stimmt nicht. Aljoscha ist auch gut, doch er kann mehr hassen. O Gott, was sind das für Gedanken? Serjosha, wie denke ich von dir? Was wird, wenn wir getrennt bleiben? Du dort und ich hier?
»Mein Mann«, sagte sie seufzend und knöpfte den Morgenrock auf. »Mein Mann.«
Das Häubchen hörte interessiert zu, seine Wangen strahlten dunkelrotes Licht aus. Und es fragte:
»Aber was ist dein Mann für ein Mensch?«
»Er ist ein Schurke, weiter nichts!« sagte Turbin zu sich, als er allein war, durch Zimmer und Diele von Jelena getrennt. Er spürte Jelenas Gedanken, und sie brannten ihm auf der Seele. Ein Schurke ist er, und ich bin ein Waschlappen. Wenn ich es schon nicht fertiggebracht habe, ihn hinauszuwerfen, hätte ich mich wenigstens wortlos entfernen müssen. Fahr zu allen Teufeln! Ein Schurke ist er nicht nur, weil er Jelena in solchem Augenblick verläßt, das ist letztlich nicht so wichtig, der Grund liegt woanders. Aber wo? Teufel, ich durchschaue ihn völlig. Oh, dieser Halunke, der keine Ahnung hat, was Ehre bedeutet. Alles, was er sagt, klingt wie bei einer saitenlosen Balalaika, und so was ist Offizier von der russischen Militärakademie; das sollte das Beste sein, worüber Rußland verfügt!
Die Wohnung schwieg. Der Lichtstreifen aus Jelenas Schlafzimmer war erloschen. Sie war eingeschlafen, ihre Gedanken ruhten, aber Turbin quälte sich noch lange in seinem kleinen Zimmer an seinem kleinen Schreibtisch. Der Wodka und der deutsche Wein hatten ihm einen schlechten Dienst erwiesen. Mit entzündeten Augen saß er da, starrte in ein zufällig gegriffenes Buch und las gedankenlos immer wieder dieselbe Stelle:
Dem russischen Menschen ist die Ehre
nur eine überflüssige Last …
Erst gegen Morgen kleidete er sich aus und schlief ein, im Schlaf aber quälte ihn ein Alpgespenst, das klein von Wuchs war, eine grobkarierte Hose trug und spöttisch zu ihm sagte:
»Mit nacktem Hintern soll man sich nicht auf einen Igel setzen! … Das heilige Rußland ist ein hölzernes Land, ein bettelarmes und … gefährliches Land, und dem russischen Menschen ist die Ehre nur eine überflüssige Last.«
»Ach, du Scheusal!« schrie Turbin im Schlaf. »Ich werd dich …« Im Schlaf zog er die Tischschublade auf, um den Browning herauszuholen, er wollte das Alpgespenst erschießen, jagte ihm nach, aber das Alpgespenst verschwand.
Etwa zwei Stunden dauerte sein trüber, traumloser Schlaf, und als es vor den Fenstern des Zimmers, das mit der Glasveranda abschloß, blaß und zart zu dämmern begann, träumte Turbin von der STADT.
4
Wie ein vielstöckiges Wabengebilde rauchte, rauschte und lebte die STADT. Herrlich lag sie bei Frost und Nebel auf den Bergen am Dnepr. Ununterbrochen wand sich aus den zahllosen Schloten Rauch zum Himmel. In den Straßen stieg Dunst auf, die riesigen Massen zusammengepreßten Schnees knirschten … Überall türmten sich vier-, fünf- und sechsstöckige Häuser. Tagsüber waren die Fenster schwarz, bei Nacht leuchteten ihre Reihen in der dunkelblauen Höhe. Wie Schnüre von Edelsteinen strahlten, so weit das Auge reichte, die elektrischen Kugeln auf hohen grauen Masten. Tagsüber fuhren mit angenehmem gleichmäßigem Surren die Straßenbahnen mit ihren weichen, nach ausländischer Art gefertigten gelben Strohsitzen. Von einer Steigung zur anderen fuhren schreiend die Droschkenkutscher, und die dunklen Kragen aus schwarzem und silbergrauem Pelz machten die Frauengesichter schön und geheimnisvoll.
Die Parks lagen stumm und ruhig, belastet mit unberührtem Schnee. Es gab in der STADT so viele Parks wie in keiner anderen Stadt der Welt. Wie riesige Flecke hatten sie sich überall ausgebreitet – mit Alleen, Kastanien, Schluchten, Ahornen und Linden.
Parks bedeckten die herrlichen Berge, die den Dnepr überragten, sie
Weitere Kostenlose Bücher