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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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Hand übers Gesicht und merkte, daß es tränennaß war. Lange seufzte er in der Morgendämmerung, dann schlief er wieder ein, und sein Schlaf war ruhig und traumlos.
    Tja, der Tod ließ nicht lange auf sich warten. Er kam über die herbstlichen und später winterlichen ukrainischen Landstraßen zusammen mit trockenem, peitschendem Schnee. Er ratterte in den Hainen mit Maschinengewehren. Er selbst war nicht zu sehen, sein Vorgänger aber, der wilde Bauernzorn, war ganz deutlich zu sehen. Er lief in Schneesturm und Kälte in zerlöcherten Bastschuhen, mit Heuhalmen im unbedeckten verfilzten Haar und heulte. In den Händen trug er einen riesigen Knüppel, ohne den im alten Rußland kein Beginnen möglich war. Auf den Dächern flackerten leichte rote Hähne auf. Dann zeigte sich im blutroten Licht der untergehenden Sonne ein an den Geschlechtsteilen aufgehängter jüdischer Schankwirt. Und in der schönen polnischen Hauptstadt Warschau war folgende Erscheinung zu sehen: In einer Wolke stand Henryk Sienkiewicz und lächelte boshaft. Danach folgte eine richtige Teufelei, sie brodelte, wallte hoch und spie Blasen. Die Popen läuteten die Glocken unter den grünen Kuppeln der aufgescheuchten Kirchlein, und nebenan im Schulgebäude mit den zerschossenen Fenstern sang man revolutionäre Lieder. Über die Straßen ging ein Gespenst, ein gewisser Starez Degtjarenko, voll von duftendem Schnaps und schrecklichen, gekrächzten Worten, die sich in seinem dunklen Mund zu etwas zusammenfügten, was sehr an die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte erinnerte. Dann lag dieser Prophet da und heulte, und Menschen mit roter Schleife an der Brust schlugen ihn mit Ladestöcken. Und selbst das schlaueste Gehirn würde den Verstand verloren haben: wenn rote Schleifen, dann waren Ladestöcke undenkbar, und wenn Ladestöcke, dann waren rote Schleifchen unmöglich …
    Nein, in solcher Zeit kann man in solchem Land ersticken. Zum Teufel mit ihm! Ein Mythos. Den Mythos Petljura. Ihn hat es überhaupt nicht gegeben. Er ist ein Mythos, genauso bedeutend wie der Mythos Napoleon, der nie existiert hat, nur ein weniger schöner Mythos. Etwas anderes geschah. Man mußte diesen Bauernzorn auf eine bestimmte Straße locken, denn in der Welt ist es eben so verhext eingerichtet, daß der Bauernzorn, so weit er auch läuft, schicksalhaft immer auf den gleichen Kreuzweg gelangt.
    Das ist sehr einfach. Wenn nur Wirrwarr herrscht, die Menschen finden sich von allein.
    Und so tauchte von irgendwoher Oberst Toropez auf. Es stellte sich heraus, daß er nicht mehr und nicht weniger war als ein Angehöriger der österreichischen Armee.
    »Was Sie nicht sagen!«
    »Sie können’s mir glauben.« Dann tauchte der Schriftsteller Winnitschenko auf, den zwei Dinge berühmt gemacht hatten: seine Romane und der Umstand, daß, als ihn die zauberhafte Woge zu Beginn des Jahres achtzehn gerade an die Oberfläche des wilden ukrainischen Meeres gespült hatte, die satirischen Zeitschriften von Sankt Petersburg ihn sofort zum Verräter stempelten.
    »Das hat er verdient …«
    »Na, ich weiß nicht. Da gibt es noch diesen geheimnisvollen Häftling aus dem Stadtgefängnis.«
    Im September konnte sich in der STADT noch niemand vorstellen, was drei Mann, die das Talent haben, zu gelegener Zeit zu erscheinen, alles anzustellen vermögen, selbst in so einer nichtigen Stadt wie Belaja Zerkow. Im Oktober ahnte man es schon, und Züge mit Hunderten von Lichtern fuhren vom Stadtbahnhof I durch das neue, noch verhältnismäßig breite Schlupfloch, das neuerstandene Polen, nach Deutschland. Telegramme flogen ab. Dann verschwanden die Brillanten, die unsteten Augen, die Scheitel, das Geld. Einige strebten nach Süden in die Hafenstadt Odessa. Im November – o weh! – wußte man es schon ziemlich bestimmt. Das Wort
    »Petljura!«
    »Petljura!«
    »Petljura!«
    sprang von den Wänden, von den grauen Drahtberichten. Am Morgen tropfte es von den Zeitungsblättern in den Kaffee, und das göttliche tropische Getränk verwandelte sich im Mund sofort in widerliches Spülwasser. Es tanzte auf den Zungen und klapperte in den Morseapparaten unter den Fingern der Telegrafisten. In der STADT setzten Wunder ein im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Namen, den die Deutschen auf ihre Art aussprachen:
    »Peturra.«
    Einzelne deutsche Soldaten, die die widerliche Gewohnheit hatten, durch die Vorstädte zu schlendern, verschwanden nachts. Sie verschwanden, und am Tag stellte sich heraus, daß sie

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